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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0583
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564 Zur Genealogie der Moral

einmal an eine metaphysische Wesenheit namens Wahrheit glauben, sondern
ihren Erkenntnisehrgeiz einfach nur in die Ergründung dessen, was der Fall
ist, ,wahre Aussagen' oder ,wahre Sachverhalte' investieren wollen (vgl. den
„faitalisme" in 400, 1). Dass sie dabei auf andere Dinge Verzicht leisten - bei-
spielsweise auf Lustbarkeiten, die das Leben sonst noch bietet -, ist zwar of-
fensichtlich, beweist aber noch keineswegs einen Weltverneinungs- oder Ver-
jenseitigungszwang, den die Dritte Abhandlung von GM sonst in den asketi-
schen Idealen angelegt sieht. Der leidenschaftliche Wissenschaftler wirft alles
für sein Erkenntnisinteresse in die Waagschale - aber tut das nicht auch jeder
Künstler, jeder Philosoph, jeder Politiker, der sich einer Sache verschreibt?
GM III 24 unterstellt, der Wahrheitsbegriff des leidenschaftlichen Wissenschaft-
lers sei metaphysisch, belegt das aber nur mit der alten theologischen Glei-
chung von Gott und Wahrheit, die dem Wissenschaftler nach dem Tode Gottes
ebenso wie davor herzlich egal sein kann: Er will vermutlich nicht „die Wahr-
heit", ein metaphysisches Monstrum, sondern Sachverhalte ergründen, um
über sie wahre, wissenschaftliche Aussagen zu formulieren. Braucht er wirk-
lich zwingend ein höheres Ideal - für das ihm angeblich bislang nur das asketi-
sche zur Verfügung steht? Die Verbindung von asketischem Ideal und wissen-
schaftlichem Streben nach wahren Aussagen wird in GM III 24 zwar plakativ
in Szene gesetzt, aber weder deduktiv erschlossen noch induktiv unabweisbar
gemacht.
Zur Interpretation von GM III 24 siehe insbesondere Gori 2015b und Heit
2016b; im Abgleich mit FW 301 Poellner 2009, 170 f.
398, 13 Wir „Erkennenden"] Das ist ein Rückverweis auf die allererste Zeile im
1. Abschnitt der Vorrede von GM, vgl. NK 247, 3-5. Dort freilich fehlten den
„Erkennenden", die sich selbst so unbekannt waren, noch die Anführungszei-
chen. Hier stehen sie in pointiertem Gegensatz zu den „Gläubige[n]" (398, 14),
auch wenn es Gläubige der Wissenschaft und der Wahrheit sind.
398, 19 f. Auch wir leugnen nicht, dass der Glaube „selig macht"] Vgl. Markus
16, 16, Lukas 1, 45 und NK KSA 6, 229, 16.
398, 29 Antichristen] vgl. NK KSA 6, 84, 8.
398, 29 Immoralisten] Vgl. NK 249, 22-26.
398, 30 Ephektiker] „Ephektiker", e^ektlkoi wurden die Anhänger der auf Pyr-
rhon von Elis zurückgehenden Bewegung der Skepsis genannt (Diogenes Laer-
tius: De vitis IX 69 f.; Aulus Gellius: Noctes Atticae XI 5, 6; Sextus Empiricus:
Grundriss der pyrrhonische Skepsis I 7), weil sie enoxq, Urteilsenthaltung, üben.
Der zwischen konkurrierenden Philosophien hin und her gerissene Anhänger
Pyrrhons wollte alles auf seinen Wahrheitsgehalt hin prüfen, bevor er „inne
 
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