Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0032
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 13

kultur- und literaturkritischen Studien, die N. damals trieb und in ihrer Vielge-
staltigkeit sich stärker noch in der Götzen-Dämmerung ausprägen sollten. Ins-
besondere der Begriff der decadence gab N. ein Instrument an die Hand, sein
„Duell" mit Wagner in einen viel größeren Rahmen — den einer umfassenden
Zeitdiagnose und Zeittherapie — zu stellen. Wesentliche Impulse dafür gewann
N. — ohne seine Quelle zu nennen — aus Paul Bourgets (Nouveaux) Essais de
psychologie contemporaine (1883/86), deren Bezüge zur zeitgenössischen fran-
zösischen Literatur N. (teilweise wortwörtlich) auf Wagner übertragen konnte.

4 Konzeption und Struktur
Das Pasquill WA ist auf den ersten Blick ein Werk, das sich an Wagner abarbei-
tet und den im persönlichen Umgang schon ein Jahrzehnt zuvor vollzogenen
Bruch N.s mit Wagner auch schriftstellerisch nachvollzieht. N. war, wenn über-
haupt, der deutschen Leseöffentlichkeit als Wagner-Propagandist in Erinne-
rung geblieben, obwohl er sich schon in manchen früheren Schriften unmiss-
verständlich von Wagner distanziert hatte. In WA geht es jedoch keineswegs
ausschließlich um Wagner. Das Werk bedient sich des Komponisten als eines
Exempels für die mit den Begriffen der Physiologie und Psychopathologie
gefasste, aber aus dem literaturkritischen Werk Paul Bourgets bezogene Dia-
gnose der decadence, die als übergreifendes Zeitphänomen verstanden wird.
„Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein decadent:
nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte." (KSA 6, 11, 17-
19) Selbst sieht sich das wortführende Ich als Genesener, während Wagner die
Krankheit repräsentiert, die Europa heimsucht, und die es rechtfertigt, ihn als
einen „Fall" zu behandeln.
Nach einem Vorwort besteht der Haupttext des Werkes aus einem in zwölf
nummerierte Abschnitte unterteilten „Turiner Brief vom Mai 1888" (KSA 6, 13,
2), der zwar von N. unterzeichnet ist, sich aber an keinen expliziten Adressaten
richtet. Es folgen zwei kurze Nachschriften und ein Epilog. Eingangs wird Geor-
ges Bizets Carmen als Gegengift zu Wagner empfohlen; dieser liebenswürdigen
und leichtfüßigen Musik fehle ganz die Wagnersche Pose; sie komme ganz
„[o]hne die Lüge des grossen Stils" (KSA 6, 14, 5) aus. Musik habe den Geist
frei zu machen — und dies scheint Bizets Werk zu leisten. Carmen gibt dann
Gelegenheit, kurze Bemerkungen über die Liebe einzuflechten, die keineswegs
so selbstlos sei, wie Wagner sich einrede. Wagner wird als ein Meister der
Selbstvergrößerung vorgeführt, der alles mit dem Geklingel der Tugend so auf-
blähe, dass es erhaben erscheine. Entsprechend variiere Wagner unentwegt
das Problem der Erlösung — ein Problem, das eigentlich nur für den decadent
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften