Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0033
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
14 Der Fall Wagner

ein Problem sein könne. Parsifal erscheint als hinreichender Beleg dafür, dass
man „am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken"
(KSA 6, 19, 13 f.) drohe, wie N. einen von Goethe auf die Romantiker gemünzten
Satz umwidmet. Am Ring des Nibelungen beobachtet er, wie Wagner seinen
Glauben an die Revolution durch den Schopenhauerschen Pessimismus ersetzt
habe: „Erst der Philosoph der decadence gab dem Künstler der deca-
dence sich selbst." (KSA 6, 21, 9 f.).
Wagners Musik stelle die „Degenerescenz" der Gegenwart dar und verursa-
che sie zugleich mit. „In seiner Kunst ist auf die verführerischeste Art gemischt,
was heute alle Welt am nöthigsten hat, — die drei grossen Stimulantia der
Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idio-
tische)." (KSA 6, 23, 7-11) N. attackiert als decadence-Symptom Wagners Ten-
denz zum Chaotischen und sein Verleugnen einfacher Melodik. Als Charakte-
ristikum der Dekadenz gilt, dass das Leben nicht mehr das Ganze bestimme
und sich daher das Einzelne nicht mehr integrieren lasse. Wagner wird dabei
eine Begabung als „Miniaturist" bescheinigt, der sich mit dem Trachten nach
großer Form sozusagen im Genre geirrt haben muss. Ihm sei nur an der Wir-
kung gelegen gewesen, nicht aber an Substanz; „er blieb Rhetor als Musiker"
(KSA 6, 35, 30). Wagner steht denn auch für das Überhandnehmen des Schau-
spielerischen in der Musik. Entsprechend fordert N. am Schluss seines offenen
Briefes, ,,[d]ass das Theater nicht Herr über die Künste", „der
Schauspieler nicht zum Verführer der Echten", und „die Musik
nicht zu einer Kunst zu lügen" (KSA 6, 39, 26-31) werden sollten. Die
zweite Nachschrift macht deutlich, dass auch Johannes Brahms zu Wagner
keine Alternative darstelle, während der Epilog wieder aufs Grundsätzliche
zielt, nämlich auf eine „Diagnostik der modernen Seele" (KSA 6, 53,
6), deren „Instinkt-Widersprüchlichkeit" (KSA 6, 53, 7 f.) am Fall Wagner
exemplarisch vorgeführt werden kann.
Im Untertitel ausdrücklich als „Brief" bezeichnet, bedient sich N. in WA einer
Form, die er für ein größeres Werk noch nie benutzt hatte. Einen offenen Brief
hatte er bislang nur einmal veröffentlicht, nämlich ausgerechnet als Getreuer
Wagners am 17. Januar 1873 das Neujahrswort an den Herausgeber der Wochen-
schrift „Im neuen Reich" (KSA 1, 793-797), Alfred Dove. Dieser hatte die Größen-
wahnsinns-Diagnose, die Theodor Puschmann Wagner gestellt hatte, bekräf-
tigt, worauf sich wiederum N. als Pro-Wagner-Polemiker meinte in Szene setzen
zu müssen. Auch dieser erste offene Brief stand damals im Banne Wagners,
jedoch unter entgegengesetzten Vorzeichen. WA ist als Brief mit dem Neujahrs-
wort ansonsten allerdings kaum vergleichbar; fraglich ist, ob N. den zweiseiti-
gen Text überhaupt noch vor Augen hatte, als er sich über die angemessene
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften