Überblickskommentar 19
eine exoterische Wirkungsabsicht, nämlich durch scharfe Kritik am Gegenwär-
tigen die Leser für das Neue und Unerhörte, das N. zu sagen gedenkt, geneigt
zu stimmen.
Im Unterschied zu früheren Werken war N. bei WA sofort die öffentliche
Aufmerksamkeit sicher. Bereits in den ersten Besprechungen — so nach Kr I,
150 f. in den Hamburger Nachrichten vom 06. 10. 1888, im Magazin für die Lite-
ratur des In- und Auslandes vom 10. 10. 1888 (Nr. 44, S. 694 f.), im Hamburgi-
schen Correspondenten vom 11. 10. 1888 (Nr. 283) sowie insbesondere in der am
05. 11. 1888 von der Neuen freien Presse abgedruckten Sammelbesprechung von
Eduard Hanslick (KGB III 7/3, 2, S. 1036-1038) — wird auf die Diskrepanz zwi-
schen N.s früheren, Wagner-panegyrischen Äußerungen in GT und UB IV WB
und seinem jetzt schroffen Antiwagnerianismus aufmerksam gemacht. „Sehr
Vieles von dem, was Nietzsche gegen Wagner anführt, ist ohne Frage volkom-
men richtig; es ist auch nicht neu, nur neu aus dem Munde Nietzsche's,
des bedeutendsten und geistreichsten Wagnerianers von ehedem. Aber auch
die Wahrheiten, die er ausspricht, müssen durch die Frivolität und den bellen-
den Styl seiner Schrift an Wirkung einbüßen." (Hanslick, ebd., 1037) Besonders
empfindlich auf die Attacke reagierten die überzeugten Wagnerianer, allen
voran Richard Pohl, der im Musikalischen Wochenblatt vom 25. 10. 1888 (KGB
III 7/3, 2, S. 1026-1033) den „Fall Wagner" zu einem „Fall Nietzsche" umkehrt
und sich in eingehender Diffamierung ergeht, was, wie oben erwähnt, N. zu
einem Verleger-Wechsel veranlasst. Ganz anders Carl Spitteler, der in der Ber-
ner Tageszeitung Der Bund eine sehr positive Würdigung mit zahlreichen Aus-
zügen aus WA präsentiert und sie zu Thesen zuspitzt (KGB III 7/3, 2, S. 1038-
1041). „Wir haben unsern Lesern von einem ästhetischen Ereignis Mitteilung
zu machen: Einer der ersten Vorkämpfer des Wagnertums, der Philosoph Fried-
rich Nietzsche, ist in das Lager der Gegner übergegangen, und zwar nicht still-
schweigend, sondern, wie es sich für einen so einflußreichen Wortführer
geziemt, öffentlich, mit begründeter Darlegung in Form eines Protestes." (KGB
III 7/3, 2, S. 1038) Gefallen gefunden haben wird N. auch an der Schlusspointe
von Spittelers Besprechung: „Das Entscheidende bleibt der Umstand, daß
sechs Denker wie Nietzsche eine Nation weiter fördern würden, als Myriaden
von Gelehrten und von Philosophen das während eines ganzen Jahrhunderts
vermögen." (Ebd., 1041) Im Bund blieb dies freilich nicht das letzte Wort, denn
der Redakteur Josef Viktor Widmann meinte, Spittelers Darstellung nicht unwi-
dersprochen lassen zu können und widmete Nietzsches Abfall von Wagner des-
halb im Bund vom 20. und 21. 11. 1888 einen langen, kritischen Artikel (KGB
III 7/3, 2, S. 1048-1055), der insbesondere N.s Tendenz zum Größenwahn
anprangert. „Nein! es geht mit bestem Willen nicht; wir können, nicht länger
dieses in allen Farben des gereizten Chamäleons schillernde Pamphlet
eine exoterische Wirkungsabsicht, nämlich durch scharfe Kritik am Gegenwär-
tigen die Leser für das Neue und Unerhörte, das N. zu sagen gedenkt, geneigt
zu stimmen.
Im Unterschied zu früheren Werken war N. bei WA sofort die öffentliche
Aufmerksamkeit sicher. Bereits in den ersten Besprechungen — so nach Kr I,
150 f. in den Hamburger Nachrichten vom 06. 10. 1888, im Magazin für die Lite-
ratur des In- und Auslandes vom 10. 10. 1888 (Nr. 44, S. 694 f.), im Hamburgi-
schen Correspondenten vom 11. 10. 1888 (Nr. 283) sowie insbesondere in der am
05. 11. 1888 von der Neuen freien Presse abgedruckten Sammelbesprechung von
Eduard Hanslick (KGB III 7/3, 2, S. 1036-1038) — wird auf die Diskrepanz zwi-
schen N.s früheren, Wagner-panegyrischen Äußerungen in GT und UB IV WB
und seinem jetzt schroffen Antiwagnerianismus aufmerksam gemacht. „Sehr
Vieles von dem, was Nietzsche gegen Wagner anführt, ist ohne Frage volkom-
men richtig; es ist auch nicht neu, nur neu aus dem Munde Nietzsche's,
des bedeutendsten und geistreichsten Wagnerianers von ehedem. Aber auch
die Wahrheiten, die er ausspricht, müssen durch die Frivolität und den bellen-
den Styl seiner Schrift an Wirkung einbüßen." (Hanslick, ebd., 1037) Besonders
empfindlich auf die Attacke reagierten die überzeugten Wagnerianer, allen
voran Richard Pohl, der im Musikalischen Wochenblatt vom 25. 10. 1888 (KGB
III 7/3, 2, S. 1026-1033) den „Fall Wagner" zu einem „Fall Nietzsche" umkehrt
und sich in eingehender Diffamierung ergeht, was, wie oben erwähnt, N. zu
einem Verleger-Wechsel veranlasst. Ganz anders Carl Spitteler, der in der Ber-
ner Tageszeitung Der Bund eine sehr positive Würdigung mit zahlreichen Aus-
zügen aus WA präsentiert und sie zu Thesen zuspitzt (KGB III 7/3, 2, S. 1038-
1041). „Wir haben unsern Lesern von einem ästhetischen Ereignis Mitteilung
zu machen: Einer der ersten Vorkämpfer des Wagnertums, der Philosoph Fried-
rich Nietzsche, ist in das Lager der Gegner übergegangen, und zwar nicht still-
schweigend, sondern, wie es sich für einen so einflußreichen Wortführer
geziemt, öffentlich, mit begründeter Darlegung in Form eines Protestes." (KGB
III 7/3, 2, S. 1038) Gefallen gefunden haben wird N. auch an der Schlusspointe
von Spittelers Besprechung: „Das Entscheidende bleibt der Umstand, daß
sechs Denker wie Nietzsche eine Nation weiter fördern würden, als Myriaden
von Gelehrten und von Philosophen das während eines ganzen Jahrhunderts
vermögen." (Ebd., 1041) Im Bund blieb dies freilich nicht das letzte Wort, denn
der Redakteur Josef Viktor Widmann meinte, Spittelers Darstellung nicht unwi-
dersprochen lassen zu können und widmete Nietzsches Abfall von Wagner des-
halb im Bund vom 20. und 21. 11. 1888 einen langen, kritischen Artikel (KGB
III 7/3, 2, S. 1048-1055), der insbesondere N.s Tendenz zum Größenwahn
anprangert. „Nein! es geht mit bestem Willen nicht; wir können, nicht länger
dieses in allen Farben des gereizten Chamäleons schillernde Pamphlet