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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0057
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38 Der Fall Wagner

könnten auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der
Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurück-
gebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden wer-
den." (NL 1887, KSA 12, 10[23], 468, 20-26 = KGW IX 6, W II 2, 123, 32-40) In
den Aufzeichnungen des letzten Schaffensjahres taucht häufiger das Motiv der
„Modernität als Zweideutigkeit der Werthe" (NL 1888, KSA 13,
17[2], 520, 16) auf. Wie sehr N. seine „Kritik der Modernität" (KSA 6, 140,
26) gegen deren politische und soziale Entwicklung, namentlich die Demokra-
tisierung, gerichtet sah, geht aus Abschnitt 39 der Streifzüge eines Unzeitgemäs-
sen in der Götzen-Dämmerung hervor. Wenn N. dann in EH JGB 2, KSA 6, 350,
18-23 Jenseits von Gut und Böse als das Buch ausgibt, das „in allem Wesentli-
chen eine Kritik der Modernität" sei, „die modernen Wissenschaften,
die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst
Fingerzeigen zu einem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist,
einem vornehmen, einem jasagenden Typus", dann wird hier der Radius der
Kritik noch einmal ausgeweitet. Die sich in Wagner manifestierende Modernität
ist für N. nicht nur eine der „modernen Künste", sondern sie steht exempla-
risch für Modernität überhaupt. Der Philosoph, der in WA spricht, macht es
sich zur Aufgabe, die Tragweite dieser exemplarischen Modernität Wagners
sichtbar zu machen. Dem Leser wäre sicher schon gedient, wenn er es dank der
von N. in Aussicht gestellten Analyse selbst vermeiden könnte, Wagnerianer zu
werden, bloß um die Moderne zu verstehen.

1
13, 2 Turiner Brief vom Mai 1888.] Vgl. dazu ÜK WA.
13, 3 ridendo dicere severum...] Vgl. NK 11, 4 f. 13. Das Motto ist eine
Abwandlung der sprichwörtlich verkürzten Wiedergabe einer Sentenz aus
Horaz: Satiren I, 1, 24: „Quamquam ridentem dicere verum quid vetat?" („Doch
lachend das Wahre sagen, was hindert daran?"), nämlich „ridendo dicere
verum" („Lachend das Wahre sagen", vgl. z. B. Büchmann 1882, 269 f.). N.
kommentiert die Abwandlung des Horaz-Spruchs in EH WA 1, KSA 6, 357, 12-
15, wo er über die besondere Milde spricht, die er gegenüber Wagner in WA
habe walten lassen. WA wird damit ausdrücklich auch als ein selbstironisches
Werk charakterisiert.
In seiner lateinischen Horaz-Ausgabe hat N. zwar auf der fraglichen Seite
einiges, jedoch nicht den Vers I, 1, 24 oder seine Erläuterung markiert (Horaz
1853, 8). N. wollte seine Abwandlung des Spruchs, „ridendo dicere severum",
 
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