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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0061
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42 Der Fall Wagner

arbeitete und Zerstreute oder Geschwächte. / — man muß tyranni-
siren, um überhaupt zu wirken." (KSA 12, 470, 5-16, korrigiert nach
KGW IX 6, W II 2, 121, 20-34) Der Ausdruck „Orchesterklang" kommt erst Mitte
des 19. Jahrhunderts auf; in Wagners Schriften scheint er sich nicht zu finden,
stattdessen in denjenigen seines Gegners Eduard Hanslick (freilich nicht auf
Wagner oder Bizet gemünzt: Hanslick 1886, 250 u. 256) und seines Bewunde-
rers Richard Pohl (1883, 300 f.). Der Ausdruck wird dabei nicht zur Charakteri-
sierung einer bestimmten Kompositionsart, sondern vielmehr der Leistung
eines Orchesters benutzt. In N.s Bibliothek hat sich Hans von Wolzogens The-
matischer Leitfaden durch die Musik zu Rich. Wagner's Festspiel „Der Ring des
Nibelungen" erhalten, wo bei „Brünnhildens letzten Worten" vom „auf- und
niederwogende[n] Gewebe der Orchesterklänge" als erstem „Athemzug einer
ewigen Freiheit" die Rede ist (Wolzogen 1876, 117).
13, 15-19 Jener andere Orchesterklang, der jetzt obenauf ist, der Wagnerische,
brutal, künstlich und „unschuldig" zugleich und damit zu den drei Sinnen der
modernen Seele auf Einmal redend, — wie nachtheilig ist mir dieser Wagnerische
Orchesterklang!] Zum Begriff der „modernen Seele" siehe NK 12, 23 f. Als „die
drei grossen Stimulantia der Erschöpften" bestimmt N. in WA 6, KSA 6, 23, 9-
11 „das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische)".
In einer Vorarbeit werden die „Sinne" zu „Grundbedürfnissen" und wie folgt
charakterisiert: „Der Held, wie ihn W. concipirt, eine geistreiche Complexität!
Wie verstand Wagner, den drei Grundbedürfnissen der modernen Seele mit
seinen Helden entgegenzukommen — sie will das Brutale, das Krankhafte und
das Unschuldige..." (NL 1888, KSA 13, 14[63], 249, 3-7, korrigiert nach KGW IX
8, W II 5, 150, 1-6; hier in der frühesten Version wiedergegeben — der erste
Satz wurde später von N. geändert zu: „Der Held, wie ihn W. concipirt hat —
wie modern! wie kühn! wie geistreich-complex hat er ihn concipirt!", zitiert
nach KGW IX 8, W II 5, 150, 1-2).
Brutalität ist ein Vorwurf aus der zeitgenössischen Wagner-Kritik, siehe
Tappert 1877, 6: „Brutal, der einzig richtige Ausdruck für die Musik zum zwei-
ten Finale der ,Meistersinger'. (Dorn, Castan u. A. 1870.) Brutaler
Zukunftsmusiker wird R. Wagner von H. Truhn genannt. Schon im Jahre 1861
tadelt der Pariser Schriftsteller Szarvady die brutal klingenden Effecte,
welche er im ,Tannhäuser' entdeckt hatte." In der Vierten unzeitgemässen
Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth hatte N. bereits die „moderne Seele"
mit der Unschuld in Beziehung gebracht — und durchaus auch mit Korrelaten
des Krankhaften und Unschuldigen: „Und hier wird auch mit Einem Male die
Aufgabe der modernen Kunst deutlich: Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern
oder betäuben! Das Gewissen zum Nichtwissen bringen, auf diese oder die
andere Weise! Der modernen Seele über das Gefühl von Schuld hinweghelfen,
 
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