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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0090
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Stellenkommentar WA 3, KSA 6, S. 18-19 71

blone des Tannhäuser eingepasst und remoralisiert, wird jetzt die Gegenrech-
nung aufgemacht und Wagner Goethes Perspektive unterworfen.
19, 11-14 Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die
über allen Romantikern schwebe: das Romantiker-Verhängniss. Seine Antwort
ist: „am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken."] Vgl.
Hehn 1888, 112 zu Friedrich Schlegel, von dem Schiller urteilte, ,„er phanta-
siere verrückt', und Goethe, er sei ,am Wiederkäuen sittlicher und religiöser
Absurditäten erstickt'". In NL 1888, KSA 13, 16[36], 495, 20-23 hat N. die Stelle
exzerpiert. Ursprünglich stammt die Äußerung aus Goethes Brief an Zelter vom
20. 10. 1831. „Absurditäten" pflegte auch die zeitgenössische Kritik Wagner vor-
zuwerfen (siehe Tappert 1877, 1).
19, 15-18 Heiligkeit — das Letzte vielleicht, was Volk und Weib von höheren
Werthen noch zu Gesicht bekommt, der Horizont des Ideals für Alles, was von
Natur myops ist.] „Myops" ist der Fachbegriff für „kurzsichtig", den N. sonst
nur noch in NL 1888, KSA 13, 16[31], 492, 6 benutzt, wo er von einem „deus
myops", einem „kurzsichtigen Gott" spricht, auf den die Toren des Tugendglau-
bens vertrauten. In W II 3, 8 heißt es statt 19, 15-18: „Heiligkeit ist ein Selbst-
Mißverständniß; der Philosoph leugnet den Heiligen, wie er Wunder-thäter
leugnet, nicht also, daß etwelche. Aber alles, was Pöbel und Weib ist, hat ein
Recht auf dieses Mißverständniß: es ist der ihnen erreichbare noch sichtbar
werdende Grad von Wahrheit, von Weisheit" (KSA 14, 404, korrigiert nach KGW
IX 7, W II 3, 8, 26-32).
19, 22 f. la philosophie ne suffit pas au grand nombre. Il lui faut la saintete]
Das Zitat stammt aus Ernest Renans Buch Vie de Jesus, das N. 1887/88 intensiv
studiert hat. Es steht dort im Zusammenhang eines Vergleichs der Wirksamkeit
von Philosophen mit der Wirksamkeit Jesu: „Marc-Aurele et ses nobles maitres
ont ete sans action durable sur le monde. Marc-Aurele laisse apres lui des livres
delicieux, un fils execrable, un monde qui s'en va. Jesus reste pour l'humanite
un principe inepuisable de renaissances morales. La philosophie ne suffit pas
au grand nombre. Il lui faut la saintete. Un Apollonius de Tyane, avec sa
legende miraculeuse, devait avoir plus de succes qu'un Socrate, avec sa froide
raison." (Renan 1863, 451 f. = Renan 1867, 467 f. „Marc Aurel und seine vorneh-
men Lehrer blieben ohne langfristige Wirkung auf die Welt. Marc Aurel hinter-
lässt vorzügliche Bücher, einen scheußlichen Sohn, eine Welt, die weitergeht.
Jesus bleibt für die Menschheit das unerschöpfliche Prinzip moralischer Erneu-
erungen. Der großen Zahl genügt die Philosophie nicht. Sie bedarf der Heilig-
keit. Ein Apollonius von Tyana mit seiner Wunder-Legende musste mehr Erfolg
haben als ein Sokrates mit seiner kalten Vernunft").
 
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