Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0093
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
74 Der Fall Wagner

20, 6 f. eine Kriegserklärung an die Moral) Sein eigenes Denken hat N. 1888
durchaus auch als eine solche Kriegserklärung an die Moral verstanden wissen
wollen (vgl. z. B. GD Vorwort, KSA 6, 58, 8 f.), ohne sich jedoch mit dem revolu-
tionären Impetus von 1848 identifizieren zu wollen, weil er den demokratisch-
egalitären Tendenzen aller Revolutionen seit 1789 ablehnend gegenüberstand
(vgl. z. B. NK KSA 6, 138, 15-18). Entsprechend ironisch unterstellt N. bei der
Darstellung Brünnhildes, Wagners „Hauptunternehmung" gehe „dahin, das
Weib zu emancipiren" (20, 14 f.). Die Frauenemanzipation gehört eben-
falls zu den von N. in Frage gestellten, progressiven Forderungen revolutionä-
rer Kreise. In WA 4 stellt N. Wagners Lebens- und Denkweg so dar, als sei seine
revolutionäre Moralkritik schließlich an Schopenhauers Philosophie geschei-
tert (20, 21-30); damit erscheint der Einfluss des pessimistischen Philosophen,
den N. 1888 als Repräsentanten der decadence verdächtigt, auf Wagner nicht
nur tiefgreifend, sondern verheerend. Im Gegenzug neigt N. dazu, den Einfluss
Schopenhauers auf sein eigenes Denken zu bagatellisieren (vgl. EH Warum ich
so klug bin 1, KSA 6, 279, 24-27) oder aber als Durchgangsstadium zu völliger
intellektueller Selbstständigkeit darzustellen (vgl. EH UB 3, KSA 6, 319 f.). Wäh-
rend er sich Schopenhauers bloß bedient habe, um er selbst zu werden, ein
starkes, nicht-dekadentes Individuum, ist Wagner nach seiner Darstellung aus
Schwäche an Schopenhauers Negativität zerbrochen.
20, 14-16 Seine Hauptunternehmung aber geht dahin, das Weib zu eman-
cipiren — „Brünnhilde zu erlösen"...] Vgl. NK 20, 6 f. Es ist übrigens
bemerkenswert, dass der Wagnerianer Hugo Dinger bereits 1892 N.s Interpreta-
tionslinie, allerdings unter entgegengesetzten Wertungsvorzeichen, in seinem
Werk Richard Wagners geistige Entwickelung übernimmt, natürlich ohne N. zu
zitieren: „Siegfried zerschlägt den Vertragspeer Wotans und gewinnt somit
freie Bahn, um furchtlos durch die Flammen stürmend, Brünnhilde zu erlö-
sen. / Alle Gesetze und Institutionen haben keine absolute Giltigkeit" (Dinger
1892, 1, 283).
20, 16 f. Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe] Vgl. NK
21, 1-5. Wagner hat durchaus im dritten Teil von Oper und Drama die „freie
Liebe" als Ideal gesehen und mit revolutionären Forderungen verbunden (Wag-
ner 1871-1873, 4, 257 = Wagner 1907, 4, 206, zitiert in NK 27, 24). Im „dichteri-
schen Entwurf" Jesus heißt es: „die freie Liebe konnte sich nur außer dem
Gesetze, also gegen das Gesetz, kundgeben" (Wagner 1907, 11, 306; fehlt in
Wagner 1871-1873).
20, 18 f. das Uebel ist abgeschafft] Vgl. Herrmann 1887, 4 (NPB 291,
Lesespur N.s): „Die Culturarbeit der Menschheit besteht zu einem großen
Theile darin, das Uebel in Gutes zu kehren, ja der größte Segen der heutigen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften