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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0125
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106 Der Fall Wagner

dem bei Bourget gefundenen „Mosaik-Effekt" (KSA 13, 134, 16 = KGW IX 7, W
II 3, 62, 15) in Verbindung und schlägt dort auch den Bogen zu Wagner: „Das
Nicht-festhalten-können einer bestimmten Optik macht den Stil der Wagner-
schen Musik aus: Stil hier im Sinne von Stil-Unfähigkeit gebraucht" (KSA 13,
135, 7-9 = KGW IX 7, W II 3, 63, 16-20). Den „Mosaik-Effekt" hat N. aus Bourgets
Stil-Analyse der Goncourt entlehnt, siehe den Nachweis in NK KSA 6, 115, 22-
26. In NL 1888, KSA 13, 16[77], 512, 13-18 ist die „Unruhe der Optik" schon eine
feste Prägung in einer Liste von typischen Eigenschaften des decadent: „der
decadent: extr(eme) Irritabilität — / Mangel an Tonalität / Mangel an
Eurhythmie / Unfähigkeit zu bauen / Übertreibung des Details / Unruhe der
Optik." Das Motiv der Unruhe ist in Bourgets Gegenwartsdiagnosen prominent,
auch wenn „Unruhe der Optik" oder „Unruhe des Auges" bei ihm als Wendun-
gen nicht nachweisbar sind. Von der modernen Seele schreibt er: „II arrive
alors que l'äme eprouve un indescriptible malaise, une inquietude inexpliquee."
(Bourget 1886, 74. Kursiviertes von N. unterstrichen. „Es kann also passieren,
dass die Seele ein unbeschreibliches Unbehagen, eine unerklärliche Unruhe emp-
findet." Vgl. z. B. auch Bourget 1886, 209.) Bemerkenswert ist, dass N. in 27,
4-6 den ständigen Perspektiven- und Standpunktwechsel als ein zu verurtei-
lendes Dekadenzmerkmal geißelt — während er gleichzeitig Überlegungen zum
Perspektivismus anstellt, die den ständigen Wechsel der Perspektiven angera-
ten sein lassen, da sich die Welt selbst stets unterschiedlich darstellt: „die
Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir
nicht auf unser Sein, unsere Logik, und psychologischen Vorurtheile reduzirt
haben / existirt nicht als Welt ,an sich' / sie ist essentiell Relations-Welt: sie
hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht:
ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es
widersteht ihr jeder Punkt — und diese Summirungen sind in jedem Falle gänz-
lich incongruent." (NL 1888, KSA 13, 14[93], 271, 11-19, korrigiert nach KGW
IX 8, W II 5, 128, 26-42) Praktisch folgt daraus freilich nicht, dass man seine
Optik ständig wechseln soll, obgleich man dem Werk WA selbst mit dem
Schwanken zwischen Ernst und Heiterkeit eine solche „Unruhe der Optik"
attestieren könnte.
N.s Begriff einer „Unruhe der Optik" greifen in kritischer Absicht gegen
Wagner übrigens sowohl Robert Musil (Musil 1981, 1776) als auch der Musikwis-
senschaftler Alfred Einstein auf (Einstein 1958, 113).
27, 8 f. Er war kein „lückenhaftes", kein „verunglücktes", kein „contradiktori-
sches" Genie, wie man wohl gesagt hat.] In Julius Bahnsens von N. früh gelese-
nen Beiträgen zur Charakterologie heißt es: „Das mauvais sujet gilt sogar
gewöhnlich für ein ,verunglücktes Genie' — und irgendwelche einseitig hervor-
ragende Begabung wird ihn auch meistens auszeichnen — wol am öftesten
 
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