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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0147
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128 Der Fall Wagner

moi, ä mon insu, l'acteur etudiait l'homme et prenait la nature sur le fait. /
,Voici de quelle fagon nous devons eprouver l'emotion pour etre un jour en
etat de la rendre; mais non ä l'improviste et sur la scene, quand tous les yeux
sont fixes sur nous; rien n'exposerait plus notre situation. Recemment encore,
je jouais dans Misanthropie et repentir avec une admirable actrice; son jeu si
reflechi, et pourtant si naturel et si vrai, m'entrainait. Elle s'en apergut. Quel
triomphe! et pourtant elle me dit tout bas: / ,Prenez garde, Talma, vous etes
emu!' C'est qu'en /49/ effet de l'emotion nait le trouble; la voix resiste, la
memoire manque, les gestes sont faux, l'effet est detruit! Ah! nous ne sommes
pas la nature, nous ne sommes que l'art, qui ne peut tendre qu'ä l'imiter."'
(„Es ist wahrscheinlich, dass Talma, wenn er versuchte, etwas Natürliches in
dieses akademische Stück zu bringen, in seinem Ausdruck etwas Naives,
Erstauntes hatte, das der schrecklichen Halluzination des Orest etwas Reales
verlieh. / Hier sind einige Ideen, die uns dieser große Schauspieler hinterlassen
hat. Sie weihen uns in ein seltsames Detail seiner Studien zu gerade dieser
Rolle des Orest ein: / ,Ja, wir müssen sensibel sein, wir müssen die Emotionen
fühlen, um diese besser nachzuahmen, um den Charakter durch das Studium
und die Reflexion besser zu erfassen. Unsere Kunst braucht tiefes Studium und
tiefe Reflexion. Es ist keine Improvisation möglich auf der Bühne, sonst schei-
tert man. Alles ist berechnet, alles muss vorhergesehen werden, auch das
Gefühl, das unvermittelt, und die Verwirrung, die ungewollt scheint. / Die Into-
nation, die Geste, der Blick, die inspiriert erscheinen, wurden hundertmal wie-
derholt. Der träumerische Dichter sucht einen schönen Vers, der Musiker eine
Melodie, der Geometer einen Beweis; keiner unter ihnen hat ein größeres Inte-
resse als wir, die Geste, den Akzent zu finden, der den Sinn eines einzelnen
Halbverses am besten wiedergibt. Dieses Studium begleitet den von seiner
Kunst in Beschlag genommenen Schauspieler überallhin. Beachten Sie diese
zwei Verse des Pyrrhus in Andromaque: / <Ihr wollt, dass ein König stirbt und
für die Bestrafung / gebt ihr nur einen Tag, eine Stunde, einen Augenblick.» /
Die Art und Weise, diese beiden Verse im Theater auszusprechen, ist mir bei
einem Notar eingefallen, während ich auf die Unterschrift für eine Heiratsur-
kunde wartete. Muss ich Ihnen mehr darüber sagen? Sehen Sie, wenn wir
unsere Kunst lieben, sind wir für uns selbst die Gegenstände unserer Beobach-
tung. Ich habe grausame Verluste erlitten; habe oft tiefe Trauer empfunden;
aber eben, nach den ersten Momenten, wenn der Schmerz sich Luft verschafft
durch Schreie und Tränen, fühlte ich ungewollt, wie ich mit einem gewissen
Abstand unbemerkt zu meinen Qualen, zu mir zurückkehrte. Der Schauspieler
studierte nun den Menschen und nahm Notiz von der Sache. / Dies ist die Art
und Weise, wie wir ein Gefühl empfinden müssen, um eines Tages in der Lage
zu sein, es wiederzugeben; aber nicht improvisiert oder auf der Bühne, wenn
 
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