Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0166
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar WA 10, KSA 6, S. 34-35 147

gleichliche Weise wohl bei ihm zu Muthe wurde, inmitten der Wagnerischen
Tiefe, Vielheit, Fülle, Willkür, Ungewißheit im Geistigen: damit sind sie bei
sich selbst zu Hause! Sie hören mit Entzücken, wie die großen Symbole und
Räthsel aus ungeheurer Ferne her mit sanftem Donner laut werden. Sie werden
nicht ungehalten, wenn es bisweilen grau, gräßlich und kalt hergeht: sind sie
doch sammt und sonders verwandt mit dem schlechten Wetter, dem deut-
schen Wetter!... Sie vermissen nicht, was wir Anderen vermissen: Witz,
Feuer, Anmuth; die große Logik; die übermüthige Geistigkeit; das halkyonische
Glück; den glänzenden Himmel mit seinen Sternbildern und Lichtschaudern."
35, 5 f. Anbei noch ein Wort über die Schriften Wagner's: sie sind, unter Ande-
rem, eine Schule der Klugheit.] Auch das 10. Kapitel in der vierten Unzeitge-
mässen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth (KSA 1, 496-505) ist „Wagner
als Schriftsteller" (KSA 1, 501, 8) und seinen theoretischen Schriften
gewidmet. Dass die Wendung „Schule der Klugheit" nicht freundlich
gemeint war, geht schon aus WA 9, KSA 6, 32, 19 hervor, wo dem Szeniker
„viel kluge Stupidität" attestiert wurde. Die bei N. nur hier belegte Wendung
„Schule der Klugheit" findet sich — als Übersetzung der allerdings selten
belegten schola prudentiae oder der ecole de la prudence in der Literatur der
Aufklärungszeit, namentlich bei Johann Christoph Gottsched (Gottsched 1734,
340, § 517) und Christian Garve (Garve 1797, 3, 319). Charakteristischerweise
wird die „Schule der Klugheit" der eigentlichen Weisheit antithetisch entgegen-
gesetzt — so etwa beim Kantianer Carl Christian Erhard Schmid: „Anstatt den
Menschen für sich selbst zu bilden, erzieht man ihn öfters nur für andere, für
den Staat, oder gar nur für einen besondern eigennützigen Zweck der Familie.
Anstatt ihn zur Weisheit zu leiten, führt man ihn nur in die Schule der Klug-
heit" ([Wyttenbach / Neurohr] 1796, 1, 243) — oder aber es wird wie im 20. Kapi-
tel des Anti-Machiavel (1740) von Friedrich II. von Preußen die „ecole de la
sagesse" der „ecole de la prudence" als notwendiges Korrelativ zur Seite
gestellt: „Das Studium der Vergangenheit ist den Fürsten deshalb so nothwen-
dig, weil es ihnen Beispiele von berühmten und tugendhaften Männern bietet;
es ist also eine Schule der Weisheit; das Erforschen der Zukunft ist ihnen nütz-
lich, weil es sie die Unglücksfälle, die sie zu fürchten, und die Schicksals-
schläge, die sie zu pariren haben, voraussehen läßt; es ist also eine Schule der
Klugheit: zwei Tugenden, welche für die Fürsten so nothwendig sind, wie dem
Steuermann der Compaß und die Bussole, welche die Seeleute führen." (Fried-
rich II. 1870, 67) Mit dem Gegensatz oder dem Spannungsverhältnis von Klug-
heit und Weisheit spielt N. noch, wenn er die beiden Eingangskapitel von Ecce
homo mit „Warum ich so weise bin" und „Warum ich so klug bin" betitelt.
Wenn er in 35, 6 Wagners Schriften als „Schule der Klugheit" namhaft
macht, bringt er zum Ausdruck, dass sich diese Werke vorzüglich als Lehrmit-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften