174 Der Fall Wagner
andern auf den quasi-religiösen Absolutheitsanspruch Wagners und seiner
Anhänger auch in außermusikalischen Belangen. Scharfe Kritik daran formu-
liert Hanslick 1884, 346: „,Unsere [sc. Bayreuther] Blätter,' heißt es in Wolzo-
gen's Neujahrsartikel, ,sollen auch das äußere Zeichen der Vereinigung blei-
ben, welche in diesem Ausdruck das Bekenntniß einer religiösen
Ueberzeugung gefunden hat.' Christlich und Christenthum wird nun das zweite
Wort; das öffentliche Großthun und Toilettemachen mit christlicher Gesinnung
streift ans Widerwärtige."
44, 17 f. Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven.] Vgl. NK
22, 33. Auch in der deutschen Wagnerkritik vor der Rezeption französischer
decadence-Analyse werden bereits nervenpsychologische Atteste erstellt: ,„Die
zum Princip erhobene Formlosigkeit, die systemisirte Nichtmusik, das auf 5
Notenlinien verschriebene melodische Nervenfieber — ‘ nennt Ed. Hans -
lick in der 3. Auflage des ,Musikalisch Schönen' die unendliche Melodie Wag-
ner's. — In der 4. verbesserten (!) Auflage heisst es: ,die zum Princip erhobene
Formlosigkeit, der gesungene und gegeigte Opiumrausch, für des-
sen Cultus in diesem Augenblicke in Bayreuth ein eigener Tempel erbaut
wird —.'" (Tappert 1877, 26, vgl. zu der von Wagner selbst bekannten Nerven-
schwäche auch Moore 2002a, 176) Der an Wagner adressierte Vorwurf der
„Formlosigkeit" kehrt in einer Werkskizze von NL 1885/86, KSA 12, 2[66], 90,
10 (KGW IX 5, W I 8, 150, 34) wieder, ebenso bei Tappert 1877, 13: „Formlosig-
keit. ,Die zum System erhobene Formlosigkeit ist die hervorstechende Eigen-
thümlichkeit der Musik zum »Lohengrin«.' (0. Gumprecht, 1859)".
44, 18-27 Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass
mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden — ein wildes Geheul
mischt sich dazwischen. Was geht da vor? — Die Jünglinge beten Wagner an...
Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt. — Typisches Telegramm aus Bay-
reuth: bereits bereut. — Wagner ist schlimm für die Jünglinge; er ist verhäng-
nissvoll für das Weib. Was ist, ärztlich gefragt, eine Wagnerianerin? — Es scheint
mir, dass ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-Alternative
stellen könnte: Eins oder das Andere.] In Heft W II 7, 57 (KSA 14, 408) lautet
der Passus: „Man wandelt nicht ungestraft nach Bayreuth. — Ein[e] noch viel
verhängnißvolleres Problem Frage stellt die Wirkung Wagners auf das Weib.
Man kann vom Standpunkt junger Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-
Alternative stellen: Eins oder das Andere. Aut liberi aut Wagner Bayreuth
lyrici... Eine Tristan-Aufführung, erlebt und empfunden, wie Wagner selbst
beide Worte versteht, gehört unter den schlimmsten Ausschweifungen bedeutet
eine Ausschweifung." Der Anfang dieser Variante spielt an auf Goethes Wahl-
verwandtschaften (II, 7) „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und
andern auf den quasi-religiösen Absolutheitsanspruch Wagners und seiner
Anhänger auch in außermusikalischen Belangen. Scharfe Kritik daran formu-
liert Hanslick 1884, 346: „,Unsere [sc. Bayreuther] Blätter,' heißt es in Wolzo-
gen's Neujahrsartikel, ,sollen auch das äußere Zeichen der Vereinigung blei-
ben, welche in diesem Ausdruck das Bekenntniß einer religiösen
Ueberzeugung gefunden hat.' Christlich und Christenthum wird nun das zweite
Wort; das öffentliche Großthun und Toilettemachen mit christlicher Gesinnung
streift ans Widerwärtige."
44, 17 f. Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven.] Vgl. NK
22, 33. Auch in der deutschen Wagnerkritik vor der Rezeption französischer
decadence-Analyse werden bereits nervenpsychologische Atteste erstellt: ,„Die
zum Princip erhobene Formlosigkeit, die systemisirte Nichtmusik, das auf 5
Notenlinien verschriebene melodische Nervenfieber — ‘ nennt Ed. Hans -
lick in der 3. Auflage des ,Musikalisch Schönen' die unendliche Melodie Wag-
ner's. — In der 4. verbesserten (!) Auflage heisst es: ,die zum Princip erhobene
Formlosigkeit, der gesungene und gegeigte Opiumrausch, für des-
sen Cultus in diesem Augenblicke in Bayreuth ein eigener Tempel erbaut
wird —.'" (Tappert 1877, 26, vgl. zu der von Wagner selbst bekannten Nerven-
schwäche auch Moore 2002a, 176) Der an Wagner adressierte Vorwurf der
„Formlosigkeit" kehrt in einer Werkskizze von NL 1885/86, KSA 12, 2[66], 90,
10 (KGW IX 5, W I 8, 150, 34) wieder, ebenso bei Tappert 1877, 13: „Formlosig-
keit. ,Die zum System erhobene Formlosigkeit ist die hervorstechende Eigen-
thümlichkeit der Musik zum »Lohengrin«.' (0. Gumprecht, 1859)".
44, 18-27 Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass
mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden — ein wildes Geheul
mischt sich dazwischen. Was geht da vor? — Die Jünglinge beten Wagner an...
Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt. — Typisches Telegramm aus Bay-
reuth: bereits bereut. — Wagner ist schlimm für die Jünglinge; er ist verhäng-
nissvoll für das Weib. Was ist, ärztlich gefragt, eine Wagnerianerin? — Es scheint
mir, dass ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-Alternative
stellen könnte: Eins oder das Andere.] In Heft W II 7, 57 (KSA 14, 408) lautet
der Passus: „Man wandelt nicht ungestraft nach Bayreuth. — Ein[e] noch viel
verhängnißvolleres Problem Frage stellt die Wirkung Wagners auf das Weib.
Man kann vom Standpunkt junger Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-
Alternative stellen: Eins oder das Andere. Aut liberi aut Wagner Bayreuth
lyrici... Eine Tristan-Aufführung, erlebt und empfunden, wie Wagner selbst
beide Worte versteht, gehört unter den schlimmsten Ausschweifungen bedeutet
eine Ausschweifung." Der Anfang dieser Variante spielt an auf Goethes Wahl-
verwandtschaften (II, 7) „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und