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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0207
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188 Der Fall Wagner

13, 25[4], 639). Dass N. den Dostojewskij-Artikel in der Revue des deux mondes
gelesen haben könnte, legt nicht nur die inhaltliche Übereinstimmung nahe,
sondern auch der Umstand, dass N. zumindest einen anderen Artikel aus dem-
selben Jahrgang der Zeitschrift drei Jahre später gleichfalls verarbeitet hat (Yri-
arte 1885 in AC 46, KSA 6, 224, 1-7, Nachweis bei Campioni 1999, 369). Vogües
Artikel schildert über weite Strecken das pathologieverdächtige Figurenarsenal
in Dostojewskijs Romanen: „Dans le peuple innombrable invente par Dostoiev-
sky, je ne connais pas un individu que M. Charcot ne put reclamer ä quelque
titre." (Vogüe 1885, 345. „Unter den unzähligen von Dostojewski erfundenen
Personen kenne ich keine einzige, auf die Herr Charcot nicht mit gewissem
Recht Anspruch erheben könnte.") Gemeint ist Jean Martin Charcot (1825-
1893), der berühmte Pariser Nervenarzt und Physiologe.
Bereits mit seinem Brief vom 29. 03. 1886, KGB III 4, Nr. 360, S. 149 kün-
digte Franz Overbeck N. die Zusendung von Carl Bleibtreus Pamphlet Revolu-
tion der Literatur an. N. reagierte darauf — und zwar entschieden ablehnend —
über ein Jahr später in seinen Briefen vom 04. 05. 1887, KSB 8, Nr. 843, S. 67
und vom 13. 05. 1887, KSB 8, Nr. 847, S. 74 f. Dabei bescheinigte er Bleibtreu
„psychologische Armseligkeit, zb. in dem kurzen Abweise, mit dem er das
letzte Werk Dostojewsky's bedenkt! (Gerade daß die höchste psychologische
Mikroscopie und Feinsichtigkeit noch ganz und gar nichts zum Werthe eines
Menschen hinzuthut, das ist eben das Problem D.s, das ihn am meisten inte-
ressirt: wahrscheinlich weil er es in russischen Verhältnissen zu oft aus der
Nähe erlebt hat! (Ich empfehle dafür übrigens das zuletzt ins Französische
übersetzte kleine Werk D's ,l'esprit souterrain', dessen zweiter Theil jenes
sehr thatsächliche Paradoxon auf eine beinahe fürchterliche Weise illus-
trirt)." Overbeck besaß die zweite Auflage von Bleibtreus erfolgreichem Werk
Revolution der Literatur, die im Unterschied zur ebenfalls 1886 erschienenen
ersten und zur 1887 erschienenen 3. Auflage (zur Textgeschichte siehe Bleib-
treu 1973, 192-195) ein umfangreiches Vorwort enthielt, das sich über die euro-
päische Literatur im Allgemeinen äußerte und da auch wenige Worte über
Dostojewskij verlor: „Wohl aber hat das Russenthum in Turgenieff einen Dich-
ter hervorgebracht, der nur deshalb sich nicht zu den wahrhaft grossen
erhob, weil der melancholischen nervösen Stimmungsfeinheit und unheimlich
scharfen Beobachtungsgabe des Russen die nervige trotzige Kraft und Idealität
des Germanen mangelt. In Dostojewski zeigt sich der Krankheitszustand der
moskowitischen Halbcultur bereits in bedenklichem Grade, als eine Art über-
reizter Monomanie der Analysirungssucht." (Bleibtreu 1886b, XIX) Dazu heißt
es weiter in der Fußnote: „Seine letzte Schöpfung Junger Nachwuchs', an sich
eine staunenswerthe Leistung, krankt an einem einzigen, unheilbaren Fehler.
Ein Bursch von 20 Jahren erzählt in drei Bänden seine bisherige Geschichte;
 
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