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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0208
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Stellenkommentar WA Epilog, KSA 6, S. 50-51 189

mit einer wunderbaren Schärfe detaillirt er all seine Jugendeselei, Thorheit,
Roheit. /XX/ Dabei schildert er sich als unbedeutend, ungehobelt und wenig
gebildet, wie es auch den von ihm erzählten Thatsachen allein entspricht. Er
vergisst aber, dass nur ein eminent bedeutender Mensch einer solchen Selbst-
Analyse fähig wäre und sie mit solcher Kraft schildern könnte! So verfängt sich
der Naturalismus oft in der eigenen Schlinge." (Ebd., XIX f.) Auf diese Stelle
muss sich N. in seinem Brief beziehen, denn in der Erstauflage des Werkes
fehlt Dostojewskij ganz, während es in der dritten Auflage von 1887 heißt:
„Betreffs meiner Aeusserung über Dostojewski habe ich hinzuzufügen, dass
ich ,Raskolnikow', den Roman des Gewissens, sehr hochstelle. [...] Wenn wir
hingegen ein Werk wie ,Germinal' mit ,Raskolnikow' vergleichen, so müssen
wir letzterem eine feinere Virtuosität der Technik, ersterem aber eine höhere
ethisch-soziale Bedeutung zusprechen." (Bleibtreu 1973, VII) Die „Aeusserung"
aus der zweiten Auflage selbst, namentlich die Bemerkung zur „Monomanie
der Analysirungssucht" und zur „Schärfe" der Beobachtung entfällt in der drit-
ten Auflage, so dass sich N. in seinem Brief an Overbeck unzweifelhaft auf
die Bemerkung in der zweiten Auflage bezieht. Trotz der Zurückweisung von
Bleibtreus Urteil über Dostojewskij bewegt sich N. in seiner eigenen Beurtei-
lung des Russen durchaus auf parallelen Pfaden, gilt ihm doch ebenfalls
Dostojewskijs psychologische Scharfsicht als dessen Hauptcharakteristikum.
Zudem versteht N. ebenso wie Bleibtreu Dostojewskij als Symptom seiner Zeit.
N.s Abgrenzungsrhetorik ist hier stärker als die tatsächlichen Differenzen im
Urteil über den russischen Dichter.
51, 5 „Entselbstung"] Vgl. NK KSA 6, 372, 27-32.
51, 12 f. Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit
des Auges nicht.] Diese Äußerung charakterisiert N.s antichristliche Strategie
beispielsweise in AC — eine Strategie die nicht auf die Kraft des besseren Argu-
ments und auf dialektisch erzeugten Überzeugungswandel, sondern auf eine
Rhetorik gewaltsamer Überwältigung setzt. In EH Vorwort 2, KSA 6, 259, 10 f.
sagt das dort sprechende Ich denn auch, es widerlege keine „Ideale", sondern
wappne sich mit „Handschuhen" vor ihnen. Die „Krankheit des Auges" bezieht
sich auf 51, 10 f., wonach die christlich-moralische und die herren-moralische
Wertungsweise jeweils „nothwendig[e]" „Gegensatzformen in der Optik der
Werthe seien". Schien es daher so, als wären diese Optiken nicht gegeneinan-
der aufrechenbar, da sie eben irreduzibel andere Wirklichkeitsperspektiven
darstellen sollen, wird nun die eine Optik als krank gebrandmarkt — als eine
offensichtlich unheilbare Krankheit. Die Krankheitsanalogie ist selber ein Bei-
spiel für die Rhetorik gewaltsamer Überwältigung. Die Rede von der Augen-
krankheit weckt im Übrigen biblische Assoziationen, namentlich an die blin-
 
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