Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0224
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 205

(90, 26) zu finden. Gemäß dem „Irrthum der imaginären Ursachen"
(GD Die vier grossen Irrthümer 4, KSA 6, 92, 2) werde eine Ursache erdacht,
wenn gerade keine zur Hand ist — dies geschehe in der Sinnesphysiologie
ebenso wie in Religion und Moral. Der „Irrthum vom freien Willen" (GD
Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6, 95, 10) vervollständigt die Reihe der Irrtü-
mer, bevor das Kapitel in ein atheistisches Manifest mündet: „Der Begriff ,Gott'
war bisher der grösste Einwand gegen das Dasein... Wir leugnen Gott, wir
leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. —"
(GD Die vier grossen Irrthümer 8, KSA 6, 97, 5-8).
Der aggressive Ton wird im siebten Kapitel „Die ,Verbesserer' der Mensch-
heit" zunächst gemildert. Das Trachten der Moral, die Menschen zu „verbes-
sern" (GD Die „Verbesserer" der Menschheit 2, KSA 6, 99, 2), könne sowohl die
Gestalt der „Zähmung der Bestie Mensch" (99, 5 f.) als auch der „Züch-
tung einer bestimmten Gattung Mensch" (99, 6) annehmen. Das klassische
Beispiel einer Zähmung durch Schwächung gibt das Christentum, während das
Gesetzbuch des Manu mit seiner rigiden Kastenordnung als Züchtungspro-
gramm gelesen wird.
Die „ewige[n] Götzen" (GD Vorwort, KSA 6, 58, 11) treten im achten Kapi-
tel hinter der politisch-kulturellen Gegenwartsdiagnose zurück: Das Kapitel
„Was den Deutschen abgeht" variiert die aus N.s früheren Schriften geläufigen
Invektiven gegen den Niedergang der Kultur in Deutschland.
Das neunte Kapitel, die „Streifzüge eines Unzeitgemässen", versammelt 51
teilweise formelhaft verkürzte Betrachtungen zu verschiedenen Gegenständen.
Hier ist die stilistische Nähe zu N.s Aphorismenbüchern aus den frühen achtzi-
ger Jahren am ehesten greifbar. Schroffe literaturkritische Urteile über europäi-
sche Geister von Seneca bis John Stuart Mill, von Jean-Jacques Rousseau bis
George Sand gehen Überlegungen zur Künstlerpsychologie, zum Schönen, zum
Gegensatz von Apollinisch und Dionysisch oder zum intellektuellen Gewissen
voraus. Arthur Schopenhauer, der „Naturwerth des Egoismus" (GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 33, KSA 6, 131, 26) und die Nähe von Anarchis-
mus und Christentum werden ebenso behandelt. Jenseits aller „liberalen Insti-
tutionen" (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6, 139, 9) will N. einen
„Begriff von Freiheit" (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6,
139 f.) entwickeln — „als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will,
das man erobert..." (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6, 140,
23 f.) Goethe ist mit seiner „Natürlichkeit der Renaissance" (GD Streifzüge
eines Unzeitgemässen 49, KSA 6, 151, 7) in der Genie-Ästhetik der letzten
Abschnitte eine paradigmatische Lichtgestalt, die nur noch von N.s eigenem
Ich überstrahlt wird.
Das zehnte, später eingefügte Kapitel „Was ich den Alten verdanke" wählt
scheinbar eine autobiographische Thematik, aber will doch vor allem zeigen,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften