Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 64-65 255
schwanken.] Vgl. das Fragment zu einem nicht geschriebenen Dionysos-Dithy-
rambus in NL 1888, KSA 13, 20[150], 574, 3-7: „unruhig, wie Pferde: / schwankt
nicht unser eigner Schatten / auf und nieder? / man soll uns in die Sonne
führen, / gegen die Sonne" (vgl. Groddeck 1991, 1, 42, Fr. 181).
Bukephalos, das Pferd Alexanders des Großen, soll sich vor seinem eige-
nen Schatten gefürchtet haben, so dass Alexander das wilde Tier erfolgreich
zähmen konnte (vgl. Plutarch: Vitae parallelae: Alexander, Kapitel 6, 667b-e).
Auf französisch ist „cheval ombrageux" sowohl eine feststehende Redensart
als auch ein Terminus technicus für ein Pferd, das vor seinem eigenen Schatten
Angst hat. Dass es solche Pferde gibt, hätte die zeitgenössische Fachliteratur
N. bestätigen können: „Le cheval ombrageux est celui qui a peur de tous les
objets qu'il rencontre, et quelquefois meme de son ombre. Il faut monter ces
chevaux avec une attention particuliere, et s'occuper avec soin de les porter
sur tout ce qu'ils cherchent ä eviter" (Baucher 1859, 581. „Das Schatten-Pferd
hat vor jedem Objekt Angst, welches ihm begegnet. Manchmal fürchtet es
sogar seinen eigenen Schatten. Diese Pferde müssen mit besonderer Vorsicht
geritten werden und man muss zusehen, dass diese Pferde alles überwinden,
wovor sie eigentlich ausweichen würden").
65, I f. Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu sehn.] Demge-
genüber hat der dänische Philosoph Harald Höffding in seiner von N. intensiv
studierten Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung hervorgehoben,
dass für die Psychologie das Absehen von der Außenweltorientierung und die
Hinwendung zur Selbstbeobachtung konstitutiv sei: „Erst auf einer höhern Kul-
turstufe kann das Gebot: Erkenne dich selbst! ausgeprochen — und damit der
direkten psychologischen Forschung der Weg geöffnet werden." (Höffding 1887,
2; Höffding hat bald selbst N. gelesen, vgl. NH 518.) In Mp XVI 4 hatte 65, l f.
unter Anspielung auf Alexanders Zähmung des Bukephalos (vgl. 64, 23-65, 1)
noch gelautet: „Dann soll man sich in die Sonne führen und gegen die
Sonne." (KSA 14, 412) Die Metapher wurde also noch nicht ins Begriffliche
übersetzt, die Nutzanwendung auf die Psychologie unterblieb.
36
65, 4-7 Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? — Eben so wenig,
als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen
sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: man muss die Moral anschies-
sen.] Im Druckmanuskript stand in 65, 4 statt „wir" noch „die", so dass eine
Identifikation des Schreibenden mit den Immoralisten in dieser spielerischen
schwanken.] Vgl. das Fragment zu einem nicht geschriebenen Dionysos-Dithy-
rambus in NL 1888, KSA 13, 20[150], 574, 3-7: „unruhig, wie Pferde: / schwankt
nicht unser eigner Schatten / auf und nieder? / man soll uns in die Sonne
führen, / gegen die Sonne" (vgl. Groddeck 1991, 1, 42, Fr. 181).
Bukephalos, das Pferd Alexanders des Großen, soll sich vor seinem eige-
nen Schatten gefürchtet haben, so dass Alexander das wilde Tier erfolgreich
zähmen konnte (vgl. Plutarch: Vitae parallelae: Alexander, Kapitel 6, 667b-e).
Auf französisch ist „cheval ombrageux" sowohl eine feststehende Redensart
als auch ein Terminus technicus für ein Pferd, das vor seinem eigenen Schatten
Angst hat. Dass es solche Pferde gibt, hätte die zeitgenössische Fachliteratur
N. bestätigen können: „Le cheval ombrageux est celui qui a peur de tous les
objets qu'il rencontre, et quelquefois meme de son ombre. Il faut monter ces
chevaux avec une attention particuliere, et s'occuper avec soin de les porter
sur tout ce qu'ils cherchent ä eviter" (Baucher 1859, 581. „Das Schatten-Pferd
hat vor jedem Objekt Angst, welches ihm begegnet. Manchmal fürchtet es
sogar seinen eigenen Schatten. Diese Pferde müssen mit besonderer Vorsicht
geritten werden und man muss zusehen, dass diese Pferde alles überwinden,
wovor sie eigentlich ausweichen würden").
65, I f. Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu sehn.] Demge-
genüber hat der dänische Philosoph Harald Höffding in seiner von N. intensiv
studierten Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung hervorgehoben,
dass für die Psychologie das Absehen von der Außenweltorientierung und die
Hinwendung zur Selbstbeobachtung konstitutiv sei: „Erst auf einer höhern Kul-
turstufe kann das Gebot: Erkenne dich selbst! ausgeprochen — und damit der
direkten psychologischen Forschung der Weg geöffnet werden." (Höffding 1887,
2; Höffding hat bald selbst N. gelesen, vgl. NH 518.) In Mp XVI 4 hatte 65, l f.
unter Anspielung auf Alexanders Zähmung des Bukephalos (vgl. 64, 23-65, 1)
noch gelautet: „Dann soll man sich in die Sonne führen und gegen die
Sonne." (KSA 14, 412) Die Metapher wurde also noch nicht ins Begriffliche
übersetzt, die Nutzanwendung auf die Psychologie unterblieb.
36
65, 4-7 Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? — Eben so wenig,
als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen
sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: man muss die Moral anschies-
sen.] Im Druckmanuskript stand in 65, 4 statt „wir" noch „die", so dass eine
Identifikation des Schreibenden mit den Immoralisten in dieser spielerischen