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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0285
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266 Götzen-Dämmerung

stehn zu müssen} Den „neue[n] Gegensatz: das Dionysische und das Sokrati-
sche" (GT 12, KSA 1, 83, 8 f.) hat N. ebenso wie die negative Sicht auf Sokrates
als Verfallssymptom der griechischen Kultur bereits in der Geburt der Tragödie
etabliert, freilich noch ohne die stark physiologisierende Sicht (vgl. mit Litera-
turangaben Reibnitz 1992, 320-324 und NH 374 f. [Andrea Orsucci]).
Die „Übereinstimmung der Weisen", d. h. der Philosophiehistoriker, hat N.
nicht nur angegriffen, weil er die Vorstellung von Sokrates als „Theoretiker des
reinen Wissens" preisgab, um sich stattdessen für dessen spezifische Lebens-
praxis zu interessieren (NH 374), sondern vor allem weil er schon in GT Sokra-
tes nicht mehr als Verkörperung höchster griechischer Kultur, vielmehr ihres
bereits weitgediehenen Verfalls betrachtete. Repräsentiert wird der Konsens
der Philosophiehistoriker von Eduard Zeller und seiner Philosophie der Grie-
chen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, über die N. im Zusammenhang mit
seiner Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen im Brief vom 11. 06. 1872 an
Rohde meint, er könne „des ehrsamen Zeller langgesponnene Berichte" „nur
zum Spott" lesen (KSB 4, Nr. 229, S. 10, Z. 11 f.). Das hielt N. nicht davon ab,
an den „Geheimen Rath" Zeller ein Freiexemplar von GT schicken zu lassen
(Reibnitz 1992, 47), auf das vom berühmten Philosophiehistoriker freilich — im
Unterschied zum Diogenes-Programm, für das Zeller am 22. 05. 1870 immerhin
noch brieflich gedankt hatte (KGB II 2, Nr. 102, S. 211 f.) — keine Antwort über-
liefert ist. Zeller hat das Bild des Sokrates in warmen Farben gemalt und hinzu-
gefügt: „Zu dieser Naturwüchsigkeit der sokratischen Tugend gehört es nun
auch, dass sie durchaus das eigenthümliche Gepräge der griechischen Sittlich-
keit trägt. Sokrates ist nicht dieses verwaschene Tugendideal, zu dem ihn eine
seichte Aufklärung herabsetzen wollte, er ist durch und durch Grieche, ein
Mann aus dem innersten Mark seiner Nation, ein Charakter, der Fleisch und
Blut hat und nicht den allgemeinen moralischen Leisten für alle Zeiten abgiebt.
Gleich seine vielgerühmte Mässigkeit hat nicht das Ascetische, woran man
wohl neuerdings dabei zu denken pflegt" (Zeller 1859, 2, 56).
68, 10-19 Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können
zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur
als Symptome in Betracht, - an sich sind solche Urtheile Dummheiten. Man
muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese
erstaunliche finesse zu fassen, dass der Werth des Lebens nicht abge-
schätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei,
ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Todten nicht, aus einem
andren Grunde.] Vgl. GD Moral als Widernatur 5, KSA 6, 86, 6-14, während N.
in EH Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264, 9 f. für sich gerade „Freiheit von
Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens" in Anspruch nimmt.
KSA 14, 413 zitiert aus Heft W II 5, 51 die Streichung einer Vorstufe zu 68, 10-
 
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