270 Götzen-Dämmerung
69, 3 f. Aber der Verbrecher ist ein decadent. War Sokrates ein typischer Verbre-
cher?] Auch diese dialektische Frage, mit der der decadent als Schädiger des
aufstrebenden Lebens kriminalisiert wird, ist bestimmt von Fere 1888 und
erhält eine ironische Note dadurch, dass N. in die Rolle der verpönten Ankläger
des Sokrates schlüpft, die seine Hinrichtung betrieben haben, während Sokra-
tes sonst gewöhnlich für die Personifikation der unschuldig verfolgten, morali-
schen Integrität gehalten wird. Überdies hegt N. — als Umwerter aller Werte
quasi ex officio — in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 45 eine unverhohlene
Sympathie für Verbrecher, und zwar ohne die moralischen Vorbehalte, die etwa
in Friedrich von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre oder in Heinrich
von Kleists Michael Kohlhaas noch wie selbstverständlich mitschwangen: „Der
Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen
Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch." (KSA 6, 146, 20-22)
Gerade ein solcher Verbrecher ist Sokrates nach N.s Beschreibung offenkundig
nicht. Die scheinbar so eindeutige Verurteilung des Sokrates verliert damit ihre
Eindeutigkeit und verlangt vom Leser, angestachelt von N.s Provokation sich
selbst zu Sokrates ins kritische Verhältnis zu setzen. Zur philosophischen Inter-
pretation vgl. auch McNeill 2004, 273.
69, 4-10 Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-
Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer,
der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in's
Gesicht, er sei ein monstrum, — er berge alle schlimmen Laster und Begierden in
sich. Und Sokrates antwortete bloss: „Sie kennen mich, mein Herr!"] Vgl. Lich-
tenberg 1867, 4, 31, Fn. (nach Cicero: Tusculanen IV 37, 80): „Zopyrus behaup-
tete, Sokrates sei ein lasterhafter Mensch, worauf dieser erwiederte, daß er
allerdings zu einem lasterhaften Leben geneigt, und gewiß schlecht geworden
sein würde, wenn er nicht durch die Philosophie sein böses Naturel verbessert
hätte." Historisch-kritisch aufbereitet — mit weiteren Angaben zu den antiken
Quellen — findet sich die dort allerdings für zweifelhaft gehaltene „Erzählung
von dem Physiognomen Zopyrus" bei Zeller: Zopyrus habe „den Sokrates für
dumm und ausschweifend erklärt, und von ihm die Antwort erhalten [...]: von
Natur wäre er es auch, aber er habe diese Fehler mit seiner Vernunft überwun-
den. Geschichtlich ist diese Erzählung wohl schwerlich; sie sieht wenigstens
ganz aus, als ob sie ersonnen wäre, um an dem bekannten Beispiel des Gottes
im Satyrgehäuse (PLATO Symp. 215. 221, D) die Macht der Vernunft über eine
fehlerhafte Naturanlage anschaulich zu machen. [...] Auch an den syrischen
Magier könnte man bei Zopyrus denken" (Zeller 1859, 2, 54, fortlaufende Fn.
von 53; vgl. auch Lange 1926, 1, 341 Anm. 41, fehlt in Lange 1887). Vgl. GD Das
Problem des Sokrates 9, KSA 6, 71, 21-25.
69, 3 f. Aber der Verbrecher ist ein decadent. War Sokrates ein typischer Verbre-
cher?] Auch diese dialektische Frage, mit der der decadent als Schädiger des
aufstrebenden Lebens kriminalisiert wird, ist bestimmt von Fere 1888 und
erhält eine ironische Note dadurch, dass N. in die Rolle der verpönten Ankläger
des Sokrates schlüpft, die seine Hinrichtung betrieben haben, während Sokra-
tes sonst gewöhnlich für die Personifikation der unschuldig verfolgten, morali-
schen Integrität gehalten wird. Überdies hegt N. — als Umwerter aller Werte
quasi ex officio — in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 45 eine unverhohlene
Sympathie für Verbrecher, und zwar ohne die moralischen Vorbehalte, die etwa
in Friedrich von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre oder in Heinrich
von Kleists Michael Kohlhaas noch wie selbstverständlich mitschwangen: „Der
Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen
Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch." (KSA 6, 146, 20-22)
Gerade ein solcher Verbrecher ist Sokrates nach N.s Beschreibung offenkundig
nicht. Die scheinbar so eindeutige Verurteilung des Sokrates verliert damit ihre
Eindeutigkeit und verlangt vom Leser, angestachelt von N.s Provokation sich
selbst zu Sokrates ins kritische Verhältnis zu setzen. Zur philosophischen Inter-
pretation vgl. auch McNeill 2004, 273.
69, 4-10 Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-
Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer,
der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in's
Gesicht, er sei ein monstrum, — er berge alle schlimmen Laster und Begierden in
sich. Und Sokrates antwortete bloss: „Sie kennen mich, mein Herr!"] Vgl. Lich-
tenberg 1867, 4, 31, Fn. (nach Cicero: Tusculanen IV 37, 80): „Zopyrus behaup-
tete, Sokrates sei ein lasterhafter Mensch, worauf dieser erwiederte, daß er
allerdings zu einem lasterhaften Leben geneigt, und gewiß schlecht geworden
sein würde, wenn er nicht durch die Philosophie sein böses Naturel verbessert
hätte." Historisch-kritisch aufbereitet — mit weiteren Angaben zu den antiken
Quellen — findet sich die dort allerdings für zweifelhaft gehaltene „Erzählung
von dem Physiognomen Zopyrus" bei Zeller: Zopyrus habe „den Sokrates für
dumm und ausschweifend erklärt, und von ihm die Antwort erhalten [...]: von
Natur wäre er es auch, aber er habe diese Fehler mit seiner Vernunft überwun-
den. Geschichtlich ist diese Erzählung wohl schwerlich; sie sieht wenigstens
ganz aus, als ob sie ersonnen wäre, um an dem bekannten Beispiel des Gottes
im Satyrgehäuse (PLATO Symp. 215. 221, D) die Macht der Vernunft über eine
fehlerhafte Naturanlage anschaulich zu machen. [...] Auch an den syrischen
Magier könnte man bei Zopyrus denken" (Zeller 1859, 2, 54, fortlaufende Fn.
von 53; vgl. auch Lange 1926, 1, 341 Anm. 41, fehlt in Lange 1887). Vgl. GD Das
Problem des Sokrates 9, KSA 6, 71, 21-25.