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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0291
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272 Götzen-Dämmerung

Muskelzug gekrümmt und gebogen. Am auffallendsten ist diese Krümmung [...]
an den Beinen, indem die Kniee weit voneinander entfernt stehen. [...] Indivi-
duen, welche die R. in sehr intensivem Grad gehabt haben, bleiben gewöhnlich
klein, und da zugleich der Schädel bei ihnen im Verhältnis zum Gesicht sehr
groß ist, so gewähren solche Menschen einen eigentümlichen Anblick. Über
die Ursachen der R. ist man nicht genügend unterrichtet."
Die Vorstellung, dass Rachitis einen Einfluss auf die geistige Tätigkeit
haben könnte, ist alt. Beispielsweise meint Ernst Platner in seiner An-
thropologie, dass Knaben, die unter der „englischen Krankheit" litten, ,,[e]in
weiches und zugleich reizbares Gehirn" besäßen — die Voraussetzung für
Genie (Platner 1772, 285, § 819). In Jacques-Joseph Moreau de Tours' La psycho-
logie morbide ist die Rachitis eine der physiologischen Ursachen für die geistige
Entwicklung der Menschheit überhaupt; er erstellt eine Liste berühmter Rachi-
tiker (Moreau 1859, 544-551), in der Sokrates freilich fehlt, wird er von Moreau
doch bereits als erster Vertreter der „folie", des Wahnsinns geführt (Moreau
1859, 518, vgl. auch NK 69, 15-17). Sokrates' untersetzter, hässlicher Körperbau
könnte N. dazu veranlasst haben, ihn medizinhistorisch unter die Rachitiker
zu rechnen — was Rachitiker allerdings zu besonderer Bosheit veranlasst, ist in
der konsultierten Literatur nicht auszumachen. Schon frühen GD-Rezipienten
wollte demgegenüber der Rachitis-Bezug nicht mehr einleuchten. So schreibt
Leopold Ziegler 1915/16: „Was hat der ,typische Verbrecher', was die ,Rhachiti-
ker-Bosheit' in Gottes Namen — mit Sokrates zu schaffen." (Ziegler 2007, 244)
N.s Pathologisierung des Sokrates wird demgegenüber nahtlos fortgesetzt und
vergröbert bei Klages 1926a (dazu kritisch Müller 2005, 198, Fn. 470).
69, 15-17 Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht, die, als
„Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden sind.) Vgl. Galton
1883, 176: „Striking instances of great visionaries may be mentioned, who had
almost beyond doubt those very nervous seizures with which the tendency to
hallucinations is intimately connected. To take a single instance, Socrates,
whose daimon was an audible not a visual appearance, was, as had been often
pointed out, subject to cataleptic seizure, standing all night through in a rigid
attitude." Auch in der philosophiehistorischen Literatur ist das Daimonion —
wie Sokrates es nach Platon: Apologie 31c-d schildert — Gegenstand pathobio-
graphischer Befragung, so bei Zeller 1859, 2, 61 f.: Es „entstand ihm [sc. Sokra-
tes] der Glaube an jene göttlichen Offenbarungen, deren er sich erfreute, und
1621 insbesondere an die Form derselben, welche unter dem Namen des sokra-
tischen Dämonium bekannt ist. Sokrates war nicht nur im Allgemeinen über-
zeugt, dass er im Dienste der Gottheit stehe und wirke, sondern er glaubte
auch an besondere dämonische Eingebungen, die ihm zu Theil werden." Die
mögliche pathologische Bedingtheit von Sokrates' Daimonion und seiner eks-
 
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