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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0293
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274 Götzen-Dämmerung

siehe NK KSA 1, 94-28-34. Bei Zeller fehlt bezeichnenderweise das dritte Glied
der Gleichsetzung von Wissen/Vernunft, Tugend und Glück, die etwa in Prota-
goras 361a-c eine Vorlage hat (vgl. auch Xenophon: Memorabilien III 9). Es
heißt dort nur: „Das allgemeine Princip der sokratischen Ethik spricht der Satz
aus, dass alle Tugend im Wissen bestehe" (Zeller 1859, 2, 97 nach Aristoteles:
Nikomachische Ethik VI 13, 1144b). Auch bei Brochard 1887, 21 bleibt das Glück
ausgeblendet und Sokrates als wissenschaftsgläubiger Tugendprediger darge-
stellt, während Lange die Ironie bei Sokrates für eine Kaschierung des zugrun-
deliegenden Vernunft-Dogmatismus hält: „Dieser Dogmatismus hat aber nur
sehr wenige und einfache Dogmen, die immer wiederkehren: die Tugend ist
ein Wissen; der Gerechte allein ist wahrhaft glücklich" (Lange 1887, 52). N.
hat 1887/88 die Gleichsetzung von Tugend und Glück übrigens auch in der
hinduistischen Morale du Tirouvallouver (Lamairesse 1867) gefunden, aus der
er nach Foucher 1873, 185-187 in NL 1887/88, KSA 13, 11[64], 32 (KGW IX 7, W
II 3, 168, 2-14) als „[c]hinesisch" zitiert. Dort gibt es die Sentenz: ,„Le
bonheur vient de la vertu."' (Foucher 1873, 184. „,Das Glück kommt aus der
Tugend.'").
69, 21 f. jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in Sonderheit alle
Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat.] Dass in Sokrates die Abirrung
von den ursprünglichen griechischen Instinkten greifbar werde, ist bei N. ein
wiederkehrendes Thema (vgl. z. B. GT Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12
u. GD Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, 69, 13). Auch schon im Frühwerk ist
Instinkt ein Schlüsselwort in der Sokrates-Kritik, dort aber trotz Monstrositäts-
verdacht noch ohne den starken physiopathologischen Unterton des Spät-
werks: „Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die
schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmah-
nend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusst-
sein zum Schöpfer — eine wahre Monstrosität per defectum!" (GT 13, KSA 1,
90, 24-28) Dass der „Sokratismus [...] den Instinkt und damit die Kunst" ver-
achte (ST, KSA 1, 542, 12), ist ein Leitmotiv des frühen N.; „Auflösung der
Instinkte" heißt es in diesem Zusammenhang (NL 1872/73, KSA 7, 23[35], 555,
26).
Das Thema ,Sokrates und die Instinkte' tritt dann erst ab etwa 1886 promi-
nent hervor, mit anderer Akzentuierung in JGB 191 (KSA 5, 112 f.: Sokrates,
Platon und die abendländische Moral als Rationalisierung des Herden-In-
stinkts), bevor N. 1888 mit der Opposition von Vernunft und Instinkt wieder
auf die Linie des Frühwerks einzuschwenken scheint. In EH sieht N. darin eine
Haupterkenntnis von GT: „Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung,
als typischer decadent zum ersten Male erkannt. ,Vernünftigkeit' gegen In-
stinkt." (EH GT 1, KSA 6, 310, 19-21) Dass diese Instinkte, gegen die Sokrates
 
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