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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0306
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Stellenkommentar GD Vernunft, KSA 6, S. 73-74 287

den, und in diesem Fall nähern sie sich dem Zustand der Hyperästhesie, d. h.
einer krankhaft gesteigerten Empfindlichkeit der Nerven." Bei N. tauchte der
Ausdruck „Idiosynkrasie" erstmals in NL 1881, KSA 9, 11[156], 500, 21, u. 501,
15 (im Werk in FW 3, KSA 3, 375, 23) auf, als er sich für medizinisches Fachwis-
sen stärker zu interessieren begann. Vgl. NK KSA 6, 181, 22 f.
74, 4 Mangel an historischem Sinn] Das Plädoyer für ein „historische[s]
Philosophiren" (MA I 2, KSA 2, 25, 13 f.) ist ein zentrales Anliegen von
N.s Philosophie, das sich im Projekt einer Genealogie der Moral exemplarisch
artikuliert (vgl. dazu — ebenfalls mit der Formel „Mangel an historischem
Sinn" - NL 1885, KSA 11, 35[5], 510 f. = KGW IX 4, W I 3, 132, 2-48 und NL
1886/87, KSA 12, 7[20], 302 f.). Schon in MA I 2 galt „Mangel an historischem
Sinn" als „der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens
die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck
bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als
die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass
der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist;
während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermö-
gen sich herausspinnen lassen." (KSA 2, 24, 24-32) Zur Interpretation von 74,
4 vgl. z. B. Brobjer 2004c; zur philosophisch-systematischen Relevanz Sommer
2008d.
74, 4 f. ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus.]
Schon früh assoziiert N. das Alte Ägypten, nach bereits tradierten Klischees,
mit „Steifigkeit", „Kälte" und Erstarrung (GT 9, KSA 1, 70, 26 f.; vgl M 554, KSA
3, 324, 16 f. u. GM II 5, KSA 5, 299, 13-16). In M 72 taucht der Begriff des
Ägyptizismus erstmals im Zusammenhang einer jüdischen Vorstellung auf:
„der endgültige Tod als die Strafe des Sünders und niemals wieder auferste-
hen, als äusserste Drohung, — das wirkte schon stark genug auf diese sonder-
baren Menschen [sc. die Juden], welche ihren Leib nicht loswerden wollten,
sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägypticismus, in alle Ewigkeit zu retten
hofften." (KSA 3, 70, 23-28) Ägyptizismus scheint hier mit Mumifizierung des
irdischen Leibes assoziiert zu werden.
In GD Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, 156, 2 f. verbindet N. Ägypten
mit Idealismus und Verjenseitigung, in NL 1887/88, KSA 13, 11[375], 169, 3 (KGW
IX 7, W II 3, 25, 20) mit einer Schwergewichtsverlagerung ins Jenseits. Im Brief
von Köselitz vom 31. 05. 1888 berichtete N. über seinen Lektüreeindruck von
Jacolliot 1876, d. h. der von ihm studierten Ausgabe des Manu-Gesetzbuches:
„Ich bekenne den Eindruck, daß mir alles Andere, was wir von großen Moral-
Gesetzgebungen haben, als Nachahmung und selbst Carikatur davon
erscheint: voran der Aegypticismus; aber selbst Plato scheint mir in allen
 
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