Stellenkommentar GD Vernunft, KSA 6, S. 76-77 297
76, 23-26 Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das
Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne — das Alles
kann nicht geworden sein, muss folglich causa sui sein.] N. unterwirft in diesem
Abschnitt die großen Begriffe der Philosophie einem genealogischen Verfah-
ren, wie er es ähnlich schon in GM erprobt hat, um herauszustellen, dass kein
Begriff „causa sui", Ursache seiner selbst ist. Zur Kritik an der Idee der „causa
sui" vgl. JGB 21, KSA 5, 35 f. u. JGB 15, KSA 5, 29, 14 f. Bei den von Brochard
behandelten antiken Skeptikern hatte N. in seiner schon früh ausgeprägten
Kritik an den herkömmlichen Begriffen der Philosophie Unterstützung gefun-
den: Dort wird beispielsweise geschildert, wie Aenesidemus den Begriff des
Guten überhaupt zurückgewiesen habe (Brochard 1887, 270), oder wie eben
gerade kein Korrespondenzverhältnis zwischen Begriffen und Dingen in der
Welt bestehe (ebd., 410).
76, 28-30 Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an
sich, als ens realissimum...] Die scholastische Definition Gottes als des „aller-
wirklichsten Wesens" hat schon Kant in seiner Zurückweisung des ontologi-
schen Gottesbeweises problematisiert (Kritik der reinen Vernunft, AA III 403-
410). Bei Ueberweg 1866b, 3, 165 konnte N. (dessen direkte Kant-Lektüren sehr
spärlich waren) dazu lesen: „Das kosmologische Argument schliesst daraus,
dass überhaupt irgend etwas existirt, auf die Existenz eines schlechthin noth-
wendigen Wesens, welches dann unter Zuhülfenahme des ontologischen Argu-
mentes mit der Gottheit als dem ens realissimum oder perfectissimum gleichge-
setzt wird. Kant dagegen bestreitet, dass die Principien des Vernunftgebrauchs
uns zu einer Verlängerung der Kette der Ursachen über alle Erfahrung hinaus
berechtigen; führte aber das Argument auch wirklich auf eine extramundane
und schlechthin nothwendige Ursache, so sei doch dieselbe noch nicht als das
absolut vollkommene Wesen erwiesen und die Zuflucht zum ontologischen
Argument sei wegen der erwiesenen Ungültigkeit desselben unzulässig."
76, 30-31 Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst
nehmen müssen!] Vgl. NK 126, 19 f.; NK KSA 6, 177, 32-178, 1 u. 185, 3.
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77, 3 wir (— ich sage höflicher Weise wir...)] Die Inanspruchnahme der „Wir",
um damit die Leser einzugemeinden und sie auf das Umwertungsanliegen des
schreibenden Ichs einzuschwören — vgl. NK KSA 6, 169, 2 —, wird hier fragend
eingeklammert, da N. sich doch erklärtermaßen nur an die „Wenigsten" wen-
det (AC Vorwort, KSA 6, 167, 2). Eine solche Reflexion auf die Funktion der
76, 23-26 Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das
Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne — das Alles
kann nicht geworden sein, muss folglich causa sui sein.] N. unterwirft in diesem
Abschnitt die großen Begriffe der Philosophie einem genealogischen Verfah-
ren, wie er es ähnlich schon in GM erprobt hat, um herauszustellen, dass kein
Begriff „causa sui", Ursache seiner selbst ist. Zur Kritik an der Idee der „causa
sui" vgl. JGB 21, KSA 5, 35 f. u. JGB 15, KSA 5, 29, 14 f. Bei den von Brochard
behandelten antiken Skeptikern hatte N. in seiner schon früh ausgeprägten
Kritik an den herkömmlichen Begriffen der Philosophie Unterstützung gefun-
den: Dort wird beispielsweise geschildert, wie Aenesidemus den Begriff des
Guten überhaupt zurückgewiesen habe (Brochard 1887, 270), oder wie eben
gerade kein Korrespondenzverhältnis zwischen Begriffen und Dingen in der
Welt bestehe (ebd., 410).
76, 28-30 Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an
sich, als ens realissimum...] Die scholastische Definition Gottes als des „aller-
wirklichsten Wesens" hat schon Kant in seiner Zurückweisung des ontologi-
schen Gottesbeweises problematisiert (Kritik der reinen Vernunft, AA III 403-
410). Bei Ueberweg 1866b, 3, 165 konnte N. (dessen direkte Kant-Lektüren sehr
spärlich waren) dazu lesen: „Das kosmologische Argument schliesst daraus,
dass überhaupt irgend etwas existirt, auf die Existenz eines schlechthin noth-
wendigen Wesens, welches dann unter Zuhülfenahme des ontologischen Argu-
mentes mit der Gottheit als dem ens realissimum oder perfectissimum gleichge-
setzt wird. Kant dagegen bestreitet, dass die Principien des Vernunftgebrauchs
uns zu einer Verlängerung der Kette der Ursachen über alle Erfahrung hinaus
berechtigen; führte aber das Argument auch wirklich auf eine extramundane
und schlechthin nothwendige Ursache, so sei doch dieselbe noch nicht als das
absolut vollkommene Wesen erwiesen und die Zuflucht zum ontologischen
Argument sei wegen der erwiesenen Ungültigkeit desselben unzulässig."
76, 30-31 Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst
nehmen müssen!] Vgl. NK 126, 19 f.; NK KSA 6, 177, 32-178, 1 u. 185, 3.
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77, 3 wir (— ich sage höflicher Weise wir...)] Die Inanspruchnahme der „Wir",
um damit die Leser einzugemeinden und sie auf das Umwertungsanliegen des
schreibenden Ichs einzuschwören — vgl. NK KSA 6, 169, 2 —, wird hier fragend
eingeklammert, da N. sich doch erklärtermaßen nur an die „Wenigsten" wen-
det (AC Vorwort, KSA 6, 167, 2). Eine solche Reflexion auf die Funktion der