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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0379
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360 Götzen-Dämmerung

Mechanik sei vielleicht nicht, wofür sie gehalten zu werden pflegt, eine
Aetiologie des absolut Realen, sondern bloße Semiotik der für Men-
schen wahrnehmbaren Symptome des Realen. Möglicherweise ver-
hält sie sich, bei aller ihrer inneren Correctheit, zum absolut Realen doch nur
so, wie die mit schwarzen Punkten auf's Papier gedruckte Notenschrift zu dem
klangvollen Tonmeer der Musik." (Liebmann 1882, 86. Von „Papier" an beginnt
am Rand eine doppelte Anstreichung N.s. Vgl. Loukidelis 2007, 391-394).
N. überträgt in 98, 17-22 die naturphilosophische Terminologie auf die Kul-
tur- und Moralanalyse, mit dem Anspruch freilich, hinter den Symptomen auf
die inneren Zustände, das Reale zugreifen zu können (vgl. im Hinblick auf N.s
Adaption von Liebmanns Kraftbegriff Gerhardt 1996, 207-210). Während in GD
Die „Verbesserer" der Menschheit 5, KSA 6, 102, 16-22 das Implementieren von
Moral als Selbstermächtigungsmittel von Philosophen und Priestern erscheint,
sind es in 98, 22 die neuen (in 98, 3 angesprochenen) immoralistischen Philo-
sophen, die aus der Moral insofern Profit schlagen können, als sie diese als
Symptom bestimmter Lebensformen deuten und damit als Erschließungsmittel
des Wirklichen zu gebrauchen verstehen. Der Begriff der „Semiotik" als „Zei-
chenrede" (AC 32, KSA 6, 203, 30) ist im 19. Jahrhundert medizinisch besetzt,
siehe NK KSA 6, 27, 34-28, 1.
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Eine Vorstufe zum ganzen Abschnitt 2 (99, 2-32) in W II 6, 72 lautet: „Um billig
von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle
setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die
Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie ,bessern' wollen... Aber wir
Andern lachen, wenn ein Thierbändiger von seinen ,gebesserten' Thieren reden
wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädi-
gung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch,
sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich..." (KSA 14, 420).
Vgl. WzM2 397.
99, 5-8 Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer
bestimmten Gattung Mensch ist „Besserung" genannt worden: erst diese zoologi-
schen termini drücken Realitäten aus] Den zoologischen Terminus der Zähmung
oder Domestikation (letzterer kommt bei N. nur in NL 1888, KSA 13, 14[133],
315 = KGW IX 8, W II 5, 82, 8 vor) hat N. bei Espinas 1879, 163-193 ausführlich
besprochen gefunden (viele Lesespuren, vgl. NPB 218) — da freilich bezogen
auf Tiere im Haushalt des Menschen (sowie auf Blattläuse bei Ameisen), nicht
auf die Zähmung des Menschen selbst. Der zoologische Begriff scheint aller-
 
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