Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0408
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GD Deutschen, KSA 6, S. 108-109 389

um sich fürs Ja Platz zu schaffen, häufig im Kontext konzentrierter Kritik
betont (vgl. z. B. AC 57, KSA 6, 243, 5; EH UB 2, KSA 6, 318, 24; EH M 1, KSA 6,
330, 11; EH Za 6, KSA 6, 343, 24 mit dem grammatikalisch anfechtbaren Super-
lativ „jasagendst[.]", EH JGB 1, KSA 6, 350, 6 sowie EH Warum ich ein Schicksal
bin 4, KSA 6, 368, 6 f.: „im Jasagen ist Verneinen und Vernichten Bedin-
gung"). Obwohl auch schon in Za I Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 31
„ein heiliges Ja-sagen" beschworen wird, kommen das zusammengeschriebene
Kompositum „Jasagen" (GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160, 14) und
die daraus abgeleiteten Adjektivformen erst in den Schriften und im Nachlass
von 1888 vor. Die verbale Form begegnet (etwa in 160, 14) häufig mit dem
Zusatz „zum Leben", um jeden Zweifel auszuschließen, was hier bejaht werden
soll. In FW 276, KSA 3, 521, 26 f. wurde bereits als Programm formuliert: „Und,
Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagen-
der sein!"
108, 26-29 Sehen lernen — dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-
herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall
von allen Seiten umgehn und umfassen lernen.] Was N. hier beschreibt, ist das
pyrrhoneische Verfahren der box(, des Urteilsverzichts (vgl. z. B. Diogenes
Laertius: De vitis IX 70), das N. in AC 52, KSA 6, 233, 22 „Ephexis" nennt. In
AC 54, KSA 6, 236 f. stimmt er sogar ein Loblied auf Skepsis als Überzeugungs-
abstinenz an. Dennoch ist der Urteilsverzicht bei N. im Unterschied zu den
antiken Pyrrhoneern nichts Definitives; die Zöglinge des von ihm vorgeschlage-
nen Erziehungsprogramms sollen nicht dauerhaft meinungslos und unent-
schieden bleiben. Dementsprechend ist es bezeichnend, dass die Urteilsenthal-
tung nicht wie bei Pyrrhon als daseinbestimmende Fundamentalmaxime
verordnet wird, sondern als ein pädagogisches Mittel: nämlich durch Urteils-
verzicht späterhin ein besseres, genaueres, eben sehenderes Urteil zu ermögli-
chen. Entsprechend ist das Denken die zweite Stufe nach dem Sehen — und
erst danach kommen Schreiben und Reden. N.s Spätphilosophie lässt sich
durchaus als skeptisch beschreiben, zugleich bleibt sie im Unterschied zur pyr-
rhoneischen Skepsis in hohem Maße entscheidungsfreudig — freilich im
Bewusstsein des Umstandes, dass kein Urteil definitiv sein dürfte. Zum Thema
ausführlich Sommer 2006b u. 2007a.
108, 29-31 Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz
nicht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte
in die Hand bekommen.] Vgl. NK 109, 3-5, NK KSA 6, 267, 20 f. u. 292, 27-31.
109, 2 f. die Entscheidung aussetzen können.] Vgl. NK 108, 26-29.
109, 3-5 Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem
Reize Widerstand zu leisten — man muss reagiren, man folgt jedem Impulse.]
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften