390 Götzen-Dämmerung
Vgl. NK 83, 20 f. und NK 117, 30 f. An den anderen beiden einschlägigen GD-
Stellen wird die Unfähigkeit zum Reaktionsverzicht mit physiologischer Dege-
nerescenz assoziiert. In 108, 29-31 und 109, 3-5 scheint Erziehung zum Sehen
eine Reaktionsverzögerung bewirken zu können. Das Mittel zu dieser Erzie-
hung ist ein skeptisches: Urteilsenthaltung (vgl. NK 108, 26-29).
7
109, 20-23 Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr
davon. Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten der
Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk, auszuster-
ben.] N.s Kritik am deutschen Bildungssystem erinnert hier an das von Anatole
France in einem Essay Pour le latin in seiner La vie litteraire zum französischen
Schulunterricht Gesagte: „Apprendre ä penser, c'est en cela que se resume tout
le programme bien compris de l'enseignement secondaire. / C'est pourquoi je
regrette infiniment les methodes d'apres lesquelles on enseignait autrefois le
latin dans les classes de lettres; car, en apprenant le latin de la sorte, les
eleves apprenaient quelque chose d'infiniment plus precieux que le latin: ils
apprenaient l'art de conduire et d'exprimer leur pensee." (France 1888, 287.
„Das Denken lernen, dies ist grundsätzlich das einzige Programm einer Ober-
schule. / Deshalb vermisse ich die Methoden unendlich, nach denen früher im
Sprachunterricht Latein gelehrt wurde; denn indem man Latein auf diese
Weise gelernt hat, haben die Schüler etwas unendlich Wertvolleres als Latein
gelernt: sie lernten die Kunst, ihr Denken zu steuern und dieses Denken auszu-
drücken."). Zu N.s France-Rezeption vgl. NK KSA 6, 285, 25; auf das von France
behauptete, Stilprägend-Klassische der lateinischen Sprache kommt N. in GD
Was ich den Alten verdanke 1 zurück.
109, 23-26 Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste Erinnerung
daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur
Meisterschaft bedarf] Heutige, philosophische Leser N.s mit analytischer Schu-
lung und N.s Lob der „Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk" (109,
22 f.) im Ohr dürften geneigt sein, N.s Schriften und dem darin waltenden Den-
ken alles Technik- und Lehrplangemäße abzusprechen. Dann ließe sich 109,
23-26 womöglich als selbstironische Volte lesen. 109, 23-26 erinnert übrigens
an den in 109, 20-23 genannten Essay von France, der die deutsche Literatur
gleichfalls nach ihrer Klassizität befragt: „Toute la litterature anglaise, si poeti-
que et si profonde, offre de semblables complexites et une teile confusion. J'en
dirai autant de la litterature allemande, pour toutes les parties qui n'ont ete
Vgl. NK 83, 20 f. und NK 117, 30 f. An den anderen beiden einschlägigen GD-
Stellen wird die Unfähigkeit zum Reaktionsverzicht mit physiologischer Dege-
nerescenz assoziiert. In 108, 29-31 und 109, 3-5 scheint Erziehung zum Sehen
eine Reaktionsverzögerung bewirken zu können. Das Mittel zu dieser Erzie-
hung ist ein skeptisches: Urteilsenthaltung (vgl. NK 108, 26-29).
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109, 20-23 Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr
davon. Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten der
Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk, auszuster-
ben.] N.s Kritik am deutschen Bildungssystem erinnert hier an das von Anatole
France in einem Essay Pour le latin in seiner La vie litteraire zum französischen
Schulunterricht Gesagte: „Apprendre ä penser, c'est en cela que se resume tout
le programme bien compris de l'enseignement secondaire. / C'est pourquoi je
regrette infiniment les methodes d'apres lesquelles on enseignait autrefois le
latin dans les classes de lettres; car, en apprenant le latin de la sorte, les
eleves apprenaient quelque chose d'infiniment plus precieux que le latin: ils
apprenaient l'art de conduire et d'exprimer leur pensee." (France 1888, 287.
„Das Denken lernen, dies ist grundsätzlich das einzige Programm einer Ober-
schule. / Deshalb vermisse ich die Methoden unendlich, nach denen früher im
Sprachunterricht Latein gelehrt wurde; denn indem man Latein auf diese
Weise gelernt hat, haben die Schüler etwas unendlich Wertvolleres als Latein
gelernt: sie lernten die Kunst, ihr Denken zu steuern und dieses Denken auszu-
drücken."). Zu N.s France-Rezeption vgl. NK KSA 6, 285, 25; auf das von France
behauptete, Stilprägend-Klassische der lateinischen Sprache kommt N. in GD
Was ich den Alten verdanke 1 zurück.
109, 23-26 Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste Erinnerung
daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur
Meisterschaft bedarf] Heutige, philosophische Leser N.s mit analytischer Schu-
lung und N.s Lob der „Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk" (109,
22 f.) im Ohr dürften geneigt sein, N.s Schriften und dem darin waltenden Den-
ken alles Technik- und Lehrplangemäße abzusprechen. Dann ließe sich 109,
23-26 womöglich als selbstironische Volte lesen. 109, 23-26 erinnert übrigens
an den in 109, 20-23 genannten Essay von France, der die deutsche Literatur
gleichfalls nach ihrer Klassizität befragt: „Toute la litterature anglaise, si poeti-
que et si profonde, offre de semblables complexites et une teile confusion. J'en
dirai autant de la litterature allemande, pour toutes les parties qui n'ont ete