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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0409
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390 Götzen-Dämmerung

Vgl. NK 83, 20 f. und NK 117, 30 f. An den anderen beiden einschlägigen GD-
Stellen wird die Unfähigkeit zum Reaktionsverzicht mit physiologischer Dege-
nerescenz assoziiert. In 108, 29-31 und 109, 3-5 scheint Erziehung zum Sehen
eine Reaktionsverzögerung bewirken zu können. Das Mittel zu dieser Erzie-
hung ist ein skeptisches: Urteilsenthaltung (vgl. NK 108, 26-29).

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109, 20-23 Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr
davon. Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten der
Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk, auszuster-
ben.] N.s Kritik am deutschen Bildungssystem erinnert hier an das von Anatole
France in einem Essay Pour le latin in seiner La vie litteraire zum französischen
Schulunterricht Gesagte: „Apprendre ä penser, c'est en cela que se resume tout
le programme bien compris de l'enseignement secondaire. / C'est pourquoi je
regrette infiniment les methodes d'apres lesquelles on enseignait autrefois le
latin dans les classes de lettres; car, en apprenant le latin de la sorte, les
eleves apprenaient quelque chose d'infiniment plus precieux que le latin: ils
apprenaient l'art de conduire et d'exprimer leur pensee." (France 1888, 287.
„Das Denken lernen, dies ist grundsätzlich das einzige Programm einer Ober-
schule. / Deshalb vermisse ich die Methoden unendlich, nach denen früher im
Sprachunterricht Latein gelehrt wurde; denn indem man Latein auf diese
Weise gelernt hat, haben die Schüler etwas unendlich Wertvolleres als Latein
gelernt: sie lernten die Kunst, ihr Denken zu steuern und dieses Denken auszu-
drücken."). Zu N.s France-Rezeption vgl. NK KSA 6, 285, 25; auf das von France
behauptete, Stilprägend-Klassische der lateinischen Sprache kommt N. in GD
Was ich den Alten verdanke 1 zurück.
109, 23-26 Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste Erinnerung
daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur
Meisterschaft bedarf] Heutige, philosophische Leser N.s mit analytischer Schu-
lung und N.s Lob der „Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk" (109,
22 f.) im Ohr dürften geneigt sein, N.s Schriften und dem darin waltenden Den-
ken alles Technik- und Lehrplangemäße abzusprechen. Dann ließe sich 109,
23-26 womöglich als selbstironische Volte lesen. 109, 23-26 erinnert übrigens
an den in 109, 20-23 genannten Essay von France, der die deutsche Literatur
gleichfalls nach ihrer Klassizität befragt: „Toute la litterature anglaise, si poeti-
que et si profonde, offre de semblables complexites et une teile confusion. J'en
dirai autant de la litterature allemande, pour toutes les parties qui n'ont ete
 
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