Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0450
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 115-116 431

se meut rapidement, tend ä mettre ä son pas tous les autres organes du mouve-
ment. Dans une marche rapide, et plus encore dans une course, l'esprit est
excite, les geste et la parole s'accelerent, le visage trahit une tension insolite.'"
(„M. Roller ist aufgefallen, dass die Aktivität der Muskeln oft die psychische
Erregbarkeit erhöht. [...] ,Die schnellen Bewegungen', sagt Bain, ,schaffen eine
Art mechanischen Rausch. Wenn ein Organ, wie klein es auch immer sein mag,
sich schnell bewegt, tendiert es dazu, alle anderen Bewegungsorgane in seinen
Schritt zu bringen. Beim schnellen Gehen oder mehr noch beim Rennen wird
der Geist erregt, die Gesten und Reden werden schneller und das Gesicht verrät
eine ungewöhnliche Spannung.'").
Es ist deutlich, dass die in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 8-11 ange-
stellten Überlegungen zur Rauschbedingtheit von (großer) Kunst von der Lek-
türe einschlägiger physiologischer Literatur wie Fere beeinflusst sind, die eine
bereits in N.s Frühwerk GT angelegte Tendenz, den Rausch zur Möglichkeitsbe-
dingung künstlerisch-tragischen Schaffens zu machen (vgl. auch Därmann
2005), naturwissenschaftlich sanktioniert. Von Erregung ist bei Wagner viel
die Rede, etwa in Oper und Drama von „gebärungskräftige[r] Gefühlserregung"
(Wagner 1871-1873, 4, 141 = Wagner 1907, 4, 112). Auffällig ist schließlich, wie
häufig in den die decadence-Literatur analysierenden Studien von Paul Bour-
get auf ivresse in mannigfaltigsten Abwandlungen rekurriert wird. Zur Typolo-
gisierung des Rausches bei N. vgl. auch Solies 2000.
116, 21 f. man vergewaltigt sie] Vgl. Guyau 1887, 369, wonach die Kunst die
Wirklichkeit stets verzerrt und verfälscht wiedergebe.
116, 22-27 Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisiren
besteht nicht, wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen
des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreiben der Haupt-
züge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden.]
Auch W II 5, 164 sagt, Idealisieren sei nicht Abstrahieren. N., der gemeinhin
als ausgemachter Feind aller Spielarten von Idealismus gilt, eignet sich hier
den Begriff zur Charakterisierung des eigenen, positiven Kunstbegriffes an —
in der polemischen Absicht, alle landläufigen Idealisten ebenso zu diskreditie-
ren wie die Naturalisten, die es zu keiner Kunsteinheit brächten. Die Gestal-
tungskraft des Individuums ist dabei der Hauptzug dieses neuen Idealisie-
rungsvermögens. Vgl. Brandes 1887b, 167: „Das Ideal ist nichts als die
Umbildung, der die Wirklichkeit dadurch unterworfen wird, dass sie durch die
feinen Sinne eines Künstlers geht." In ähnlicher Weise wie das Idealisieren
appropriiert N. in W II 5, 165 „klassische[n] Stil" (KGW IX 8, W II 5, 165, 54,
vgl. KSA 14, 426 — dazu auch Seggern 2005, 17-22) im Bestreben, landläufige
Klassizisten zu diskreditieren und das Eigene zum einzig Klassischen zu erhe-
ben.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften