432 Götzen-Dämmerung
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117, 1-6 Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht
wiederspiegeln, — bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-
müssen in's Vollkommne ist — Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotz-
dem ihm zur Lust an sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommen-
heit.] Zu dem für N. im Spätwerk wichtigen Begriff der Macht vgl. z. B. NK KSA
6, 170, 2-6. Dass menschliche Kunst und der Mensch (als Künstler) vollkommen
seien, ist — zumal mit dem Akzent auf dem Lustaspekt (117, 5) — eine unver-
hohlene Spitze gegen jene theologisch-metaphysische Denkungsart, die dem
Menschen in seinen irdischen Umständen Vollkommenheit und Vervollkomm-
nungsfähigkeit prinzipiell abspricht. Ihm dies abzusprechen, stellt sich aus N.s
Perspektive gerade als Ausdruck der Abwertung dieser Welt zugunsten einer
anderen und damit als Nihilismus dar.
Informationen zum avancierten theologisch-metaphysischen Vollkommen-
heitsdiskurs konnte N. beispielsweise bei Guyau 1887, 381 f. finden. Heinrich
Wölfflin definiert 1888 Vollkommenheit in der Kunst wie folgt: „[D]as Vollkom-
mene muss den Eindruck geben, als könnte es gar nicht anders sein, als würde
jede Aenderung oder Umstellung auch nur des kleinsten Theiles Sinn und
Schönheit des Ganzen zerstören" (Wölfflin 2009, 72).
117, 8 f. eine Art zu sein, welche alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig
machte.] Vgl. Za I Von den Predigern des Todes, KSA 4, 55, 15-17: „Da sind die
Schwindsüchtigen der Seele: kaum sind sie geboren, so fangen sie schon an
zu sterben und sehnen sich nach Lehren der Müdigkeit und Entsagung." Zur
damals verbreiteten Phthisis pulmonum oder Lungenschwindsucht gibt es ein
langes Kapitel in dem von N. benutzten Compendium der praktischen Medicin
(Kunze 1881, 180-193, siehe auch Bock 1870, 692-696).
117, 9-15 Und in der That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an
solchen Ausgehungerten des Lebens: welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch
an sich nehmen, sie auszehren, sie magerer machen müssen. Dies ist zum
Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal's zum Beispiel: ein Christ, der
zugleich Künstler wäre, kommt nicht vor...] Pascals Pessimismus — vgl. NK
94, 28-30 — führt dazu, dass das diesseitige Leben zugunsten eines jenseitigen
schlecht gemacht werden muss, vgl. z. B. Brunetiere 1887, 52 f. Über Pascals
Kunst des Schreibens äußert sich Brunetiere 1887, 57 f. durchaus vorbehaltvoll.
117, 15-18 Man sei nicht kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche
homöopathische Christen des neunzehnten Jahrhunderts: Raffael sagte Ja, Raf-
fael machte Ja, folglich war Raffael kein Christ...] In der damals einschlägigen
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117, 1-6 Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht
wiederspiegeln, — bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-
müssen in's Vollkommne ist — Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotz-
dem ihm zur Lust an sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommen-
heit.] Zu dem für N. im Spätwerk wichtigen Begriff der Macht vgl. z. B. NK KSA
6, 170, 2-6. Dass menschliche Kunst und der Mensch (als Künstler) vollkommen
seien, ist — zumal mit dem Akzent auf dem Lustaspekt (117, 5) — eine unver-
hohlene Spitze gegen jene theologisch-metaphysische Denkungsart, die dem
Menschen in seinen irdischen Umständen Vollkommenheit und Vervollkomm-
nungsfähigkeit prinzipiell abspricht. Ihm dies abzusprechen, stellt sich aus N.s
Perspektive gerade als Ausdruck der Abwertung dieser Welt zugunsten einer
anderen und damit als Nihilismus dar.
Informationen zum avancierten theologisch-metaphysischen Vollkommen-
heitsdiskurs konnte N. beispielsweise bei Guyau 1887, 381 f. finden. Heinrich
Wölfflin definiert 1888 Vollkommenheit in der Kunst wie folgt: „[D]as Vollkom-
mene muss den Eindruck geben, als könnte es gar nicht anders sein, als würde
jede Aenderung oder Umstellung auch nur des kleinsten Theiles Sinn und
Schönheit des Ganzen zerstören" (Wölfflin 2009, 72).
117, 8 f. eine Art zu sein, welche alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig
machte.] Vgl. Za I Von den Predigern des Todes, KSA 4, 55, 15-17: „Da sind die
Schwindsüchtigen der Seele: kaum sind sie geboren, so fangen sie schon an
zu sterben und sehnen sich nach Lehren der Müdigkeit und Entsagung." Zur
damals verbreiteten Phthisis pulmonum oder Lungenschwindsucht gibt es ein
langes Kapitel in dem von N. benutzten Compendium der praktischen Medicin
(Kunze 1881, 180-193, siehe auch Bock 1870, 692-696).
117, 9-15 Und in der That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an
solchen Ausgehungerten des Lebens: welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch
an sich nehmen, sie auszehren, sie magerer machen müssen. Dies ist zum
Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal's zum Beispiel: ein Christ, der
zugleich Künstler wäre, kommt nicht vor...] Pascals Pessimismus — vgl. NK
94, 28-30 — führt dazu, dass das diesseitige Leben zugunsten eines jenseitigen
schlecht gemacht werden muss, vgl. z. B. Brunetiere 1887, 52 f. Über Pascals
Kunst des Schreibens äußert sich Brunetiere 1887, 57 f. durchaus vorbehaltvoll.
117, 15-18 Man sei nicht kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche
homöopathische Christen des neunzehnten Jahrhunderts: Raffael sagte Ja, Raf-
fael machte Ja, folglich war Raffael kein Christ...] In der damals einschlägigen