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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0504
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Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 130 485

allzunatürliche Gefühle bei Schlechtweggekommenen! — nieder; sie vergött-
licht ihnen selbst, unter dem Namen der Tugend und der Heiligkeit das Nied-
rig-sein, das Arm-sein, das Kranksein, das Unten-sein. Es ist nicht nur die
Klugheit der herrschenden Kasten, es ist deren eigentliche Weisheit, in jenen
Schichten des Volkes den Cultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Nied-
rigen, den ,Gott am Kreuze' aufrecht zu erhalten: mit diesem Mittel kämpfen
sie gegen den perversen Instinkt der Leidenden, den ihnen unerlaubbaren
Egoismus. Ein Kranker, ein Gebilde der decadence hat auf Egoismus kein
Recht. // Wenn der Socialist, das Mundstück niedergehender Volksschichten,
mit einer schönen Entrüstung ,Recht', ,Gerechtigkeit', ,gleiche Rechte' ver-
langt, so steht er unter dem Drucke seiner ungenügenden Cultur, welche nicht
zu begreifen weiß, warum und woran er eigentlich leidet. Andrerseits macht
er sich Vergnügen damit: dieser arme Teufel kann nichts Besseres als schreien.
Befände er sich physiologisch besser, so würde er keinen Grund haben zu
schreien: sicher fände er dann sein Vergnügen anderswo. Das Sich-Beklagen
taugt in keinem Falle was: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-
Befinden Andern oder sich selber zurechnet — ersteres thut der Socialist, letz-
teres der Christ — macht keinen wesentlichen Unterschied: das Gemeinsame
ist, daß Jemand daran durchaus schuld sein soll, wenn der Leidende leidet...
Zuletzt bleibt auch der Christ nicht bei sich selber als Ursache stehen: der
Begriff der ,Sündhaftigkeit', seinem Schlechtbefinden als causa et ratio unter-
geschoben genügt ihm nicht, um sein Ressentiment auszulassen. Die ,Welt'
wird von ihm verurtheilt, verleumdet, verflucht, aus derselben Gesinnung, aus
der der Socialist die Gesellschaft, die herrschende Ordnung und Rangdistanz
zwischen Mensch und Mensch verflucht. Der Christ nimmt sich selbst nicht
aus: das ist besserer Geschmack als der Socialisten-Geschmack, der nicht
müde wird, zu schreien ,wir allein sind die Guten und Gerechten!' In beiden
Fällen aber thut man gut, ein solches Geschrei nicht zu ernst zu nehmen. Man
halte sich vielmehr vor, daß die physiologische decadence (und nicht irgend
ein Unrecht) hier zum Himmel schreit: die ,Sündhaftigkeit' des Christen, die
socialistische Unzufriedenheit sind Mißverständnisse Leidender, denen leider
nicht zu helfen ist. Oder vielmehr: es wäre zu helfen, — aber diese Art
Mensch ist gerade zu feige dazu... // Überall, wo wir die altruistische Wer-
thungsweise im Übergewicht finden, verräth sich damit ein Instinkt des allge-
meinen Mißrathenseins. Das Werthurtheil bedeutet auf seine untersten Gründe
hin nicht mehr als ,ich bin nicht viel werth': so redet die Erschöpfung, die
Ohnmacht, der Mangel der starken tonischen bejahenden Gefühle in Muskeln,
Nerven, Bewegungscentren. Dies physiologische Werthurtheil übersetzt sich in
ein moralisches oder religiöses: im Allgemeinen ist die Vorherrschaft religiöser
und moralischer Werthe ein Zeichen niedriger Cultur. Damit geschieht
 
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