Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 151-152 555
vor sich selbst". Den geistesgeschichtlichen Horizont des Ehrfurchtsbegriffs
erschließt Claussen 2006. Vgl. NK 152, 13.
151, 26 f. der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu
gönnen wagen darfl Vgl. Schöll 1882, 72: „Nur eine Maxime leitete den jungen
Goethe, die der Natürlichkeit."
152, 1-7 Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und
vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne
verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — er verneint
nicht mehr... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben:
ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.] Das Goethe-Bild überla-
gert sich immer stärker mit N.s Selbstbild und seiner Projektion Dionysos (vgl.
zur philosophischen Deutung auch Gerhardt 2011, 305-319). Der Aspekt der
Vernichtung, der in GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160, 23 f. in die
Dionysos-Gestalt eingeschrieben wird, bleibt hier ausgeblendet — als ob das
Jasagen zur Welt, wie sie ist, die Erwähnung des Neinsagens zu den Verächtern
und Schlechtmachern dieser Welt überflüssig machte: Dieses Ja impliziert
schon das partielle Nein, während die allgemeine moralische Weltverneinung
(152, 4 f.) entfällt. Auffällig ist, dass im Zusammenhang mit Dionysos nicht nur
auf Bejahung, sondern auch auf Erlösung angespielt wird (152, 4), vgl. NK 97,
7f.
152, 2 Fatalismus] Dass man den Goethe der Wahlverwandtschaften des Fata-
lismus bezichtigen konnte, erwähnt Schöll 1882, 410.
50
152, 11 Universalität im Verstehn, im Gutheissen] Die „Universalität" Goethes
zu betonen, gehört zu den Topoi der damaligen Goethe-Deutung (vgl. z. B.
Fischer 1887b, 302), die N. zu einer Bejahungsuniversalität umfunktioniert. Zu
N.s Absetzungsbewegung von dem Goethe unterstellten „An-sich-heran-kom-
men-lassen von Jedwedem" (152, 12) siehe NK 154, 5-8.
152, 13 Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen.] Vgl. NK 151, 25 f. In Goethe: Wil-
helm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel heißt es: „,Das erste ist Ehr-
furcht vor dem, was über uns ist. [...] Das zweite, Ehrfurcht vor dem, was unter
uns ist.' [...] ,Hat man nicht von jeher die Furcht roher Völker vor mächtigen
Naturerscheinungen und sonst unerklärlichen, ahnungsvollen Ereignissen für
den Keim gehalten, woraus ein höheres Gefühl, eine reinere Gesinnung sich
stufenweise entwickeln sollte?' Hierauf erwiderten jene: ,Der Natur ist Furcht
vor sich selbst". Den geistesgeschichtlichen Horizont des Ehrfurchtsbegriffs
erschließt Claussen 2006. Vgl. NK 152, 13.
151, 26 f. der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu
gönnen wagen darfl Vgl. Schöll 1882, 72: „Nur eine Maxime leitete den jungen
Goethe, die der Natürlichkeit."
152, 1-7 Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und
vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne
verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — er verneint
nicht mehr... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben:
ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.] Das Goethe-Bild überla-
gert sich immer stärker mit N.s Selbstbild und seiner Projektion Dionysos (vgl.
zur philosophischen Deutung auch Gerhardt 2011, 305-319). Der Aspekt der
Vernichtung, der in GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160, 23 f. in die
Dionysos-Gestalt eingeschrieben wird, bleibt hier ausgeblendet — als ob das
Jasagen zur Welt, wie sie ist, die Erwähnung des Neinsagens zu den Verächtern
und Schlechtmachern dieser Welt überflüssig machte: Dieses Ja impliziert
schon das partielle Nein, während die allgemeine moralische Weltverneinung
(152, 4 f.) entfällt. Auffällig ist, dass im Zusammenhang mit Dionysos nicht nur
auf Bejahung, sondern auch auf Erlösung angespielt wird (152, 4), vgl. NK 97,
7f.
152, 2 Fatalismus] Dass man den Goethe der Wahlverwandtschaften des Fata-
lismus bezichtigen konnte, erwähnt Schöll 1882, 410.
50
152, 11 Universalität im Verstehn, im Gutheissen] Die „Universalität" Goethes
zu betonen, gehört zu den Topoi der damaligen Goethe-Deutung (vgl. z. B.
Fischer 1887b, 302), die N. zu einer Bejahungsuniversalität umfunktioniert. Zu
N.s Absetzungsbewegung von dem Goethe unterstellten „An-sich-heran-kom-
men-lassen von Jedwedem" (152, 12) siehe NK 154, 5-8.
152, 13 Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen.] Vgl. NK 151, 25 f. In Goethe: Wil-
helm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel heißt es: „,Das erste ist Ehr-
furcht vor dem, was über uns ist. [...] Das zweite, Ehrfurcht vor dem, was unter
uns ist.' [...] ,Hat man nicht von jeher die Furcht roher Völker vor mächtigen
Naturerscheinungen und sonst unerklärlichen, ahnungsvollen Ereignissen für
den Keim gehalten, woraus ein höheres Gefühl, eine reinere Gesinnung sich
stufenweise entwickeln sollte?' Hierauf erwiderten jene: ,Der Natur ist Furcht