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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0583
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564 Götzen-Dämmerung

Damit wendet er sich auch gegen die „Erklärung der Heidelberger Professo-
ren", die die griechische Literatur und Sprache für das Hauptbildungsmedium
des Gymnasiums hält, vgl. NK 108, 14-18.
Das Stilbildend-Klassische des Römertums und seiner Sprache hat schon
France 1888 in seiner Verteidigungsschrift „Pour le latin" in ähnlicher Weise
artikuliert (vgl. NK 109, 20-26). Dort heißt es etwa: „Cela non plus ne sera
jamais classique pour nous. Maintenant, ouvrez les histoires de Tite-Live. Lä
tout est ordonne, lumineux, simple; Tite-Live, ce n'est pas un genie profond;
c'est un parfait pedagogue. Il ne nous trouble jamais; c'est pourquoi nous le
lisons sans vif plaisir. Mais comme il pense regulierement! Qu'il est aise de
demontrer sa pensee, d'en examiner ä part toutes les pieces et d'expliquer le
jeu de chacune. Voilä pour la forme. Quant au fond meme, qu'y trouve-t-on?
Des legons de patriotisme, de courage et de devouement, la religion des ance-
tres, le culte de la patrie. Voilä un classique! Je ne parle pas des Grecs. Ils
sont la fleur et le parfum. Ils ont plus que la vertu, ils ont le goüt! J'entends
ce goüt souverain, cette harmonie qui nait de la sagesse. Mais il faut convenir
qu'ils ont toujours tenu peu de place dans les programmes du baccalaureat."
(France 1888, 289. „Auch dies wird für uns niemals klassisch werden. Öffnen
Sie jetzt die Historien von Titus Livius. Da ist alles ordentlich, hell und ein-
fach; Titus Livius ist nicht ein tiefes Genie; er ist ein perfekter Pädagoge. Er
verwirrt uns niemals; deshalb lesen wir ohne große Begeisterung. Aber wie
regelmäßig seine Gedanken sind! Wie flüssig er seine Gedanken vollführt, wie
er jeden Teil einzeln untersucht und wie er uns das Spiel eines jeden erklärt.
So viel zur Form. Wenn es um den Inhalt selbst geht, was findet man? Lektio-
nen von Patriotismus, Mut und Selbstlosigkeit, die Religion unserer Vorfah-
ren, den Kult des Vaterlandes. Das ist ein Klassiker! Ich spreche nicht von den
Griechen. Sie sind die Blume und das Parfum. Sie haben mehr als die Tugend,
sie haben Geschmack! Ich höre diesen selbstständigen Geschmack, diese Har-
monie, die aus der Weisheit geboren wird. Aber man muss übereinstimmen,
dass die Griechen immer wenig Platz im Programm des Abiturs gehabt
haben.").
155, 16-21 Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war
stets äusser Stande, in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehr-
ten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffinirtesten
Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf meiner Seite} N. versteht Platon
als seinen großen Antipoden und schon sehr früh seine eigene Philosophie als
„umgedrehte[n] Platonismus" (NL 1870/71, KSA 7, 7[156], 199), vgl. Mül-
ler 2005, 221-244. In NL 1886/87, KSA 12, 7[2], 253, 19-25 erläutert N., inwiefern
Platon ein Artist war: „Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er
war, dem Sein vorgezogen: also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit, das
 
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