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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0037
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14 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

vung (psychologisch, „physiologisch", philologisch, historisch) virtuos hand-
habt und durchaus neue Gesichtspunkte zum Tragen bringt, ist auch bedeut-
sam, weil in ihr N.s vorgebliche Hauptlehren, keine (Ewige Wiederkunft) oder
nur noch am Rande (Übermensch) eine Rolle spielen bzw. problematisiert wer-
den (Wille zur Macht, der dem Typus des Erlösers augenscheinlich fehlt). Bei
aller Verschärfung in Ton und Botschaft finden sich in N.s Spätwerk Anzeichen
einer philosophischen Blickverschiebung — etwa da, wo er einer neuen Form
der Skepsis das Wort redet (AC 54). Freilich ist diese Blickverschiebung in der
meist nur apologetisch oder polemisch motivierten Rezeptionsgeschichte von
AC unterbelichtet geblieben. Die unerhörte Schärfe des Tons hat auf Seiten der
Exegeten starke Abwehrreaktionen provoziert.

6 Zur Wirkungsgeschichte
Nach N.s Abgleiten in den Wahnsinn wurde die Publikation von AC zunächst
zurückgestellt. Sie erfolgte — im Unterschied zu Ecce homo — aber doch schon
1895 im Rahmen der ersten Werkausgabe von Fritz Koegel unter der Aufsicht
von Elisabeth Förster-N. N.s Schwester unterschlug vier besonders anrüchig
erscheinende Stellen, die direkt Jesus (heute KSA 6, 200, 14 f.) oder den amtie-
renden Kaiser Wilhelm II. (211, 6) zu beleidigen schienen; die an N.s Bibelfes-
tigkeit Zweifel aufkommen ließen (207, 32-208, 3) oder womöglich dessen Grö-
ßenwahn hätten nahelegen können (253, 16-20). Sie verfolgte eine Politik des
literarischen Appeasement und betonte, dass N. den Text nicht selbst veröffent-
licht habe, „und daß er wahrscheinlich ursprünglich in einer milderen Tonart
niedergeschrieben wurde. Ich will damit nicht behaupten, daß, wenn diese
Schrift von ihm selbst herausgegeben worden wäre, sie andere Grundzüge
getragen hätte, aber ich glaube, daß, in einem ruhigeren Gemütszustand ver-
faßt, der Inhalt vielmehr der Ausdrucksweise von ,Jenseits von Gut und Böse'
entsprochen haben würde." (Förster-Nietzsche 1922, 497) Anstatt auf den Inhalt
von AC nun näher einzugehen, bemüht sich Förster-N. um den Nachweis, dass
N. dem „echten" Christentum keineswegs pauschal feindselig gegenüberge-
standen habe. „Er schätzte die Wirkung der religiösen Erhebung auf Schwache
und Leidende gerade bei dem Christentum und dem Buddhismus sehr hoch"
(ebd., 502). „Bis zum Ende seines Denkens hat er eine zarte Liebe für den
Stifter des Christentums behalten" (ebd.) — eine These, die sich bis heute in
der theologisch interessierten Literatur anhaltender Beliebtheit erfreut. 1907/
08 beschuldigte Förster-N. den gerade verstorbenen Franz Overbeck in einer
publizistischen Kampagne, zu der ihr Köselitz Handlangerdienste leistete, in
Turin die Manuskripte weiterer drei Bücher der „Umwerthung" mutwillig lie-
 
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