Stellenkommentar AC 4, KSA 6, S. 170-171 43
modernen Ideen als falsch" alles, was sich im 19. Jahrhundert breiter
Zustimmung erfreute, proskribiert: von „Freiheit", „gleiche[n] Rechten", „Mit-
leiden", „Genie" bis hin zu „Utilitarismus", „Civilisation", „Weiber-Emancipa-
tion", „Volks-Bildung" und „Sociologie". „Volk", „die Rasse", „die Nation" feh-
len ebensowenig wie der „Fortschritt".
171, 5-8 Der Europäer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Euro-
päer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend wel-
cher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.] Zu N.s Renaissance-
Bild, das einerseits eine Zeitmode bedient, andererseits dieser Mode selbst
Nahrung gibt, siehe NK 250, 17-251, 1. Die Vorstellung des geschichtlichen Nie-
dergangs ist in N.s Spätwerk unter dem Stichwort der decadence leitend, vgl.
z. B. NK KSA 6, 67, 18 u. 71, 14; zur Antiteleologie auch Liebsch 1996, 126.
Zu 171, 5-8 stellt sich die Frage, wer im Kollektivsingular „Europäer der
Renaissance" welchem „Europäer von Heute" gegenübergestellt wird: An einen
,Durchschnittseuropäer' des 15. oder 16. Jahrhunderts wird N. nicht gedacht
haben, sondern an herausragende Gestalten wie Raffael (vgl. NK KSA 6, 117,
15-18) oder Cesare Borgia (vgl. NK 251, 9). Bei diesen aber handelt es sich um
jene herausragenden Einzelgestalten, die N. im zweiten Teil von AC 4 (171, 9-
17) behandelt, die wiederum über den ab- oder aufsteigenden Geschichtsver-
lauf nicht wirklich etwas aussagen, sondern „immer möglich" (171, 14) seien.
171, 5 bleibt] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „ist" (KSA 14, 437).
171, 6 tief] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „bei weitem" (KSA 14, 437).
171, 9-17 In einem andren Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen einzelner
Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Cul-
turen heraus, mit denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: Etwas,
das im Verhältniss zur Gesammt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche
Glücksfälle des grossen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht
immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können
unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.] Wiederum wird nicht
argumentiert, sondern als gegeben behauptet, dass nämlich unter allen kultu-
rellen, geographischen und historischen Umständen „ein höherer Typus"
auftreten könne. Darin — und nicht etwa in einer Rückschritts- statt einer Fort-
schrittsthese — liegt die geschichtsphilosophische Pointe des Paragraphen.
Das Partikulare und Individuelle wird gegen das Allgemeine und Gattungsmä-
ßige als eigentlicher Geschichtszweck ins Treffen geführt. Die „Glücksfälle"
werden als „möglich" angesehen, aber es wird niemand wie noch in AC 3
dazu angehalten, sie zu züchten. Wenn sie als „Treffer" (171, 16) bezeichnet
werden, dann im Sinne von Zufallsexperimenten oder Lotterie. Ausgeblendet
bleibt, wie man solche Resultate willentlich erzielen kann.
modernen Ideen als falsch" alles, was sich im 19. Jahrhundert breiter
Zustimmung erfreute, proskribiert: von „Freiheit", „gleiche[n] Rechten", „Mit-
leiden", „Genie" bis hin zu „Utilitarismus", „Civilisation", „Weiber-Emancipa-
tion", „Volks-Bildung" und „Sociologie". „Volk", „die Rasse", „die Nation" feh-
len ebensowenig wie der „Fortschritt".
171, 5-8 Der Europäer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Euro-
päer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend wel-
cher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.] Zu N.s Renaissance-
Bild, das einerseits eine Zeitmode bedient, andererseits dieser Mode selbst
Nahrung gibt, siehe NK 250, 17-251, 1. Die Vorstellung des geschichtlichen Nie-
dergangs ist in N.s Spätwerk unter dem Stichwort der decadence leitend, vgl.
z. B. NK KSA 6, 67, 18 u. 71, 14; zur Antiteleologie auch Liebsch 1996, 126.
Zu 171, 5-8 stellt sich die Frage, wer im Kollektivsingular „Europäer der
Renaissance" welchem „Europäer von Heute" gegenübergestellt wird: An einen
,Durchschnittseuropäer' des 15. oder 16. Jahrhunderts wird N. nicht gedacht
haben, sondern an herausragende Gestalten wie Raffael (vgl. NK KSA 6, 117,
15-18) oder Cesare Borgia (vgl. NK 251, 9). Bei diesen aber handelt es sich um
jene herausragenden Einzelgestalten, die N. im zweiten Teil von AC 4 (171, 9-
17) behandelt, die wiederum über den ab- oder aufsteigenden Geschichtsver-
lauf nicht wirklich etwas aussagen, sondern „immer möglich" (171, 14) seien.
171, 5 bleibt] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „ist" (KSA 14, 437).
171, 6 tief] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „bei weitem" (KSA 14, 437).
171, 9-17 In einem andren Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen einzelner
Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Cul-
turen heraus, mit denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: Etwas,
das im Verhältniss zur Gesammt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche
Glücksfälle des grossen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht
immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können
unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.] Wiederum wird nicht
argumentiert, sondern als gegeben behauptet, dass nämlich unter allen kultu-
rellen, geographischen und historischen Umständen „ein höherer Typus"
auftreten könne. Darin — und nicht etwa in einer Rückschritts- statt einer Fort-
schrittsthese — liegt die geschichtsphilosophische Pointe des Paragraphen.
Das Partikulare und Individuelle wird gegen das Allgemeine und Gattungsmä-
ßige als eigentlicher Geschichtszweck ins Treffen geführt. Die „Glücksfälle"
werden als „möglich" angesehen, aber es wird niemand wie noch in AC 3
dazu angehalten, sie zu züchten. Wenn sie als „Treffer" (171, 16) bezeichnet
werden, dann im Sinne von Zufallsexperimenten oder Lotterie. Ausgeblendet
bleibt, wie man solche Resultate willentlich erzielen kann.