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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0068
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Stellenkommentar AC 5, KSA 6, S. 171 45

die Übertragung von individuellen Lebensaltern auf die Gattung: „Man vergißt,
wie wenig die Menschheit in eine einzige Bewegung hineingehört, wie
Jugend, Alter, Untergang durchaus keine Begriffe sind, die ihr als Ganzem
zukommen" (KSA 13, 191, 23-25, korrigiert nach KGW IX 7, W II 3, 5, 32-39). Mit
der Zurückweisung der Lebensalter-Analogie beschneidet N. die Möglichkeiten
geschichtsphilosophischen Denkens tiefgreifend, so dass die Gattung als
Geschichtssubjekt ausfällt und nur das Individuum übrig bleibt. In der gestraff-
ten Version von AC 4 entfällt diese Fundamentalkritik am Gedankenfundament
der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie, wodurch der Text
plakativer wirkt. Mehr oder weniger unverändert aus dem Notizbuch übernom-
men, hätte die frühere Ausarbeitung in 11[413] die Verwirrung, die sich bei den
Lesern über das Subjekt des Textes eingestellt hatte (weil „Wir" und „Ich" ja
verschwinden), noch vergrößert: Denn das „Man" — in AC 2 Adressat der neuen
Losungen — tritt in 11[413] als Träger der modernen und also falschen Ansich-
ten auf. Zweimal heißt es zu Beginn eines Absatzes „Man vergißt" (KSA 13, 191,
23 u. 26).

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171, 19 f. Man soll das Christenthum nicht schmücken und herausputzen] In der
Vorarbeit NL 1888, KSA 13, ll[408], 188, 14 (KGW IX 7, W II 3, 7, 1) ist ausdrück-
lich „dieser ,zweitdeutige' Herr Renan" derjenige, der dies tue.
171, 24-27 Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Miss-
rathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhal-
tungs-Instinkte des starken Lebens gemacht] Dass Gott die Starken zunichte
macht, die seine Feinde sind, ist eine schon im Alten Testament vorkommende
Ansicht, vgl. z. B. Klagelieder Jeremiae 1, 15.
171, 27-30 es hat die Vernunft selbst der geistigstärksten Naturen verdorben,
indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als
Versuchungen empfinden lehrte] Im Hintergrund steht das erste Kapitel des
1. Korintherbriefs, aus dem als „Zeugniss allerersten Ranges für die Psychologie
jeder Tschandala-Moral" (AC 45, KSA 6, 223, 13 f.) später ausführlich zitiert
wird. Für Paulus „steht geschrieben" (nämlich bei Jesaja 29, 14 und Hiob 5, 12):
„Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der
Verständigen will ich verwerfen." (1. Korinther 1, 19) Hier hat N. einen handfes-
ten Beleg dafür, dass die Starken, die Reichen im Geist für den Erfinder der
christlichen Moral, den Apostel Paulus, die eigentlich Verworfenen sind. Eine
bemerkenswerte Umbesetzung des „höheren Typus" hat damit in AC 5 stattge-
 
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