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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0087
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64 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

auf die Frage: was ist Wahrheit?] Die Frage des Pilatus (Johannes 18, 38) wird
in AC 46, KSA 6, 225, 6-10 noch einmal aufgegriffen und diskutiert.
175, 11 f. Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit?] In W II 7, 12: „Reinlich-
keit in Dingen des Geistes" (KSA 14, 438).

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175, 18-26 Das Pathos, das sich daraus entwickelt, heisst sich Glaube: das
Auge Ein-für-alle Mal vor sich schliessen, um nicht am Aspekt unheilbarer
Falschheit zu leiden. Man macht bei sich eine Moral, eine Tugend, eine Heiligkeit
aus dieser fehlerhaften Optik zu allen Dingen, man knüpft das gute Gewissen
an das Falsch-sehen, — man fordert, dass keine andre Art Optik mehr Werth
haben dürfe, nachdem man die eigne mit den Namen „Gott" „Erlösung" „Ewig-
keit" sakrosankt gemacht hat.] Die Umschreibung des „Glaubens", die N. hier
gibt, lehnt sich an die etymologische Wurzel des Wortes „Mystik" an: pveiv =
„Augen und/oder Ohren verschliessen" — nämlich vor sich selbst (175, 19-21).
Der Gläubige ist demnach nicht in erster Linie einer, der sich gemäß christli-
cher Forderung von der ,Welt' abwendet, um sich Gott zu weihen, sondern
derjenige, der sich selbst gegenüber nicht redlich ist — sich nicht — wie nach
AC 1 die Hyperboreer — „ins Gesicht" (KSA 6, 169, 2) sieht.
175, 29 f. Was ein Theologe als wahr empfindet, das muss falsch sein: man
hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit.] Dieser Satz ist eine Prämisse
der in AC praktizierten Umkehrlogik. Genau genommen gibt er — so sehr er
im polemischen Kontext dienlich sein mag (zu N.s Vorliebe fürs Antithetische
vgl. z. B. Colli 1993, 181 f.) — aber kein Kriterium für Wahrheit, sondern nur für
Falschheit ab — das einschränkende „beinahe" (175, 30) ist mit Bedacht
gesetzt, denn logisch können neben den falschen Theologenansichten vielerlei
andere, nichttheologische Ansichten ebenfalls falsch sein. Auch wenn jedes
Theologenurteil Falschheit implizieren sollte, wäre damit über Wahrheit oder
Falschheit nichttheologischer Urteile gar nichts gesagt.
175, 30-176, 5 Es ist sein unterster Selbsterhaltungs-Instinkt, der verbietet, dass
die Realität in irgend einem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Worte käme. So
weit der Theologen-Einfluss reicht, ist das Werth-Urtheil auf den Kopf
gestellt, sind die Begriffe „wahr" und „falsch" nothwendig umgekehrt: was dem
Leben am schädlichsten ist, das heisst hier „wahr", was es hebt, steigert, bejaht,
rechtfertigt und triumphiren macht, das heisst „falsch"...] In 176, 4 f. spielt der
Gedanke der Biodizee hinein: Nicht allein Bejahung, Steigerung und Triumph
 
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