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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0327
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304 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

nicht mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Tri-
umph des Lebens! Sondern das grosse Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen
Dingen!... Und Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an... Die
Renaissance — ein Ereigniss ohne Sinn, ein grosses Umsonst! ] Der Zeitraffer
komprimiert das Wesentliche in Schlüsselszenen. Daher fällt außer Betracht,
dass Cesare Borgia nach dem Tod seines Vaters 1503 nach Spanien floh und
im Dienste des Königs von Navarra 1507 fiel, während Martin Luther erst ein
Jahrzehnt später, am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an das Portal der Witten-
berger Schlosskirche heftete. Letztlich ist es unerheblich, ob Luther bei seinem
Aufenthalt in Rom 1510 noch ein ergebener Sohn seiner Kirche war, dessen
religiöse Überzeugungen sich von deren Zustand kaum anfechten ließen. (N.s
Gewährsmänner sind sich uneineinig: Burckhardt 1989, 483: „Es ist bekannt,
wie Luther in Rom durch das weihelose Benehmen der Priester bei der Messe
geärgert wurde." Janssen 1879, 73, Fn. 1: „Dass Luther, wie oft behauptet wird,
durch seinen Aufenthalt in Rom ein Feind des Papstthums geworden, ist unbe-
gründet. Dass ihm die Verweltlichung des päpstlichen Hofes keineswegs gefiel,
ist leicht erklärlich".)
Auch wenn man Schwierigkeiten bekundet, einen Kausalnexus von Borgias
Untergang und Luthers Aufstieg zu erkennen, wie ihn AC 61 suggeriert, ohne
ihn direkt zu behaupten, ist doch die bei Burckhardt bestens verbürgte Hypo-
these, die Renaissance sei eigentlich an Reformation und Gegenreformation
zugrunde gegangen, zumindest diskutabel (vgl. Burckhardt 1989, 457). Burck-
hardt spricht von der „notwendigen Weltlichkeit der Renaissance" (ebd., 545)
und davon, dass bei ihren Repräsentanten die „Begriffe von Sünde und Erlö-
sung [...] fast völlig verduftet" (ebd., 549) seien. Auch hier erscheinen Renais-
sance und Reformation als sich ausschließende Größen, wobei letztere
zunächst einmal die Errungenschaften der ersteren erstickt. Ob und in welcher
Form die Kirche weiterbestanden haben würde, wenn sich nicht in Deutsch-
land eine religiöse Empörung formiert hätte, bleibt beim Basler Kulturhistori-
ker zwar offen; das ändert aber nichts an seiner Prämisse, dass die „Weltlich-
keit" der Renaissance (vgl. z. B. ebd., 487) durch die sich neu formierende
Religiosität bezwungen wurde. Ähnlich argumentiert N. in AC 61, wo er die
Polarität zu einem endgeschichtlichen Entscheidungskampf stilisiert. Wie-
derum stellt eine einzelne Figur — Luther — den Kulminationspunkt des
Geschehens dar. Ihm und seinen „priesterlichen" Instinkten ist alles Unglück
zu verdanken (während der Gegenreformation, die nach Burckhardt doch erst
der Renaissance in Italien ein Ende gesetzt hat, mit keinem Wort gedacht wird).
In EH WA 2, KSA 6, 359, 3-33 wird das Luther/Renaissance-Thema variiert
mit einer Binnendifferenzierung Christentum/Kirche, die wiederum AC 61 zu
verstehen hilft: „Jüngst machte ein Idioten-Urtheil in historicis, ein Satz des
 
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