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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0328
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Stellenkommentar AC 61, KSA 6, S. 251 305

zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die
deutschen Zeitungen als eine ,Wahrheit', zu der jeder Deutsche Ja sagen
müsse: ,Die Renaissance und die Reformation, Beide zusammen machen
erst ein Ganzes — die aesthetische Wiedergeburt und die sittliche Wiederge-
burt.' — Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre
Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie
Alles schon auf dem Gewissen haben. Alle grossen Cultur-Verbrechen
von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!... [...] Die
Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen
Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere
Ordnung der Werthe, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die
Zukunft-verbürgenden Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der Nieder-
gangs-Werthe zum Sieg gelangt waren — und bis in die Instinkte
der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängniss von Mönch, hat
die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, das Christenthum wiederher-
gestellt, im Augenblick, wo es unterlag... Das Christenthum, diese Religion
gewordne Verneinung des Willens zum Leben!... Luther, ein unmögli-
cher Mönch, der, aus Gründen seiner ,Unmöglichkeit', die Kirche angriff und
sie — folglich! — wiederherstellte... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste
zu feiern, Lutherspiele zu dichten... Luther — und die ,sittliche Wiedergeburt'!"
(Vgl. auch N.s Brief an Brandes, 20. 11. 1888, KSB 8, Nr. 1151, S. 482 f.) Das
gängige Vorurteil von der historischen Gleichrangigkeit der Reformation und
der Renaissance vertusche ihren unversöhnlichen Gegensatz. Wiederum ist von
den „Verbrechen" an der „Cultur" die Rede, die die Deutschen verschuldet
hätten — durch Luthers Wiederherstellung nicht nur der Kirche, sondern des
Christentums. Die Kirche als Institution gilt N. nicht als die wirkliche Gefahr;
Päpste wie Alexander VI. haben vor Augen geführt, dass die Institution Kirche
bestehen bleiben kann, obwohl ihr Handeln dem Christentum geradewegs
zuwiderläuft. Christentum meint, wenn seine Renovation „tausend Mal schlim-
mer" als die der Kirche sei, jene nihilistische, sklavenmoralische Weltsicht, die
weit über die Grenzen der Kirche hinausgewuchert sein soll.
Für N. ist das Christentum als Werthaltung an allem modernen Unglück
schuld und eben auch noch in Zeiten virulent, deren Kirchenglaube schwindet.
Das Problem besteht für N. nicht in der Bevormundung durch die Kirche, son-
dern darin, dass die christliche Wertungsweise sich überall eingenistet hat und
so den „Triumph des Lebens" (251, 23) verhindert. Luthers persönliche Motiva-
tion, die Reformation einzuführen, wird sowohl in AC 61 als auch in EH WA 2
als niedrig und verabscheuungswürdig angeprangert. Im Unterschied zu
Cesare Borgia, über dessen Persönlichkeitsstruktur man in AC 61 nichts erfährt,
wird der deutsche Reformator als „religiöser Mensch" nicht nur der medizini-
 
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