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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0337
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314 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

253, 2-4 mit ihrem Bleichsuchts-, ihrem „Heiligkeits"-Ideale jedes Blut, jede
Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend] Zum medizinischen Bleichsuchts-
Befund, der in moralische Kontexte überführt wird, um Moral insgesamt als
Krankheit zu problematisieren vgl. NK KSA 6 135, 22-26. In NL 1887, KSA 12,
10[117], 523, 12-16 heißt es (korrigiert nach KGW IX 6, W II 2, 57, 1-8; im Folgen-
den nur in der von N. korrigierten Version unter Auslassung der durchgestri-
chenen Passagen wiedergegeben): „Ich habe dem bleichsüchtigen ,Christen-
Ideale' den Krieg erklärt (sammt dem, was ihm naheverwandt ist), nicht in der
Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu
setzen und einen Platz frei zu bekommen für neue Ideale, [...] für
robustere [.] Ideale..." Diese noch halbwegs freundliche Vorgabe, die christli-
chen Ideale nicht vernichten zu wollen, kehrt sich in AC zum ausdrücklichen
Vernichtungswunsch um. Vgl. zur Bleichsucht auch EH M 2, KSA 6, 331, 31 f.
Die Metapher der Bleichheit benutzt Renan gelegentlich für die in der Diaspora
lebenden Juden (Renan 1866, 290 und Renan 1882, 590).
253, 5 f. die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat] Demgegen-
über sieht Hellwald 1876, 1, 553 (der keine christlich-apologetischen Interessen
verfolgt) in der öffentlichen Zugänglichkeit der christlichen Begräbnisstätten
geradezu den Gegenbeweis solcher Verschwörungstheorien: „Es heisst also der
historischen Wahrheit geradezu in's Gesicht schlagen, wenn man die Christen-
verfolgungen im römischen Staate damit zu erklären versucht, dass die ersten
Christen gewissermassen ein anonymes Consortium bildeten und ihr ganzes
Wesen etwas von geheimer Verschwörung an sich hatte." Vgl. AC 9, KSA 6, 175,
26-28 u. NK 188, lOf.
253, 9-20 Diese ewige Anklage des Christenthums will ich an alle Wände schrei-
ben, wo es nur Wände giebt, — ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu
machen... Ich heisse das Christenthum den Einen grossen Fluch, die Eine grosse
innerlichste Verdorbenheit, den Einen grossen Instinkt der Rache, dem kein Mit-
tel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, — ich heisse es den Einen
unsterblichen Schandfleck der Menschheit... / Und man rechnet die Zeit nach
dem dies nefastus, mit dem dies Verhängniss anhob, — nach dem ersten Tag
des Christenthums! — Warum nicht lieber nach seinem letzten? —
Nach Heute? — Umwerthung aller Werthe!...] Die Szene erinnert an Belsa-
zars Gastmahl (vgl. auch Heinrich Heines Ballade Belsatzar), bei dem bekannt-
lich die Finger Gottes auf die getünchte Wand das „Mene, Mene, Tekel, Uphar-
sin" (Daniel 5, 5 bzw. 5, 25) schreiben — Worte, die der Regent selber nicht,
wohl aber der Prophet Daniel zu entziffern und zu deuten weiß. Das antichrist-
liche „Ich" seinerseits schreibt gleich „an alle Wände" seine Untergangspro-
phetie über das Christentum, das gezählt, gewogen und für zu leicht befunden
 
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