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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0349
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326 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

Äußerung ist in EH die Lebenserzählung der Darstellung der „Bücher", der
„Ansichten" und des „selber" untergeordnet. Das eigentlich autobiographische
Element steht nur in funktionalem Bezug zur Exposition des Werkes, seiner
Hauptgedanken und des Charakters seines Erzeugers. Tatsächlich bietet die
Schrift in der Fassung letzter Hand auch keinen chronologischen Abriss von
N.s Lebensgeschichte, sondern setzt bei der Erörterung diverser Fragen
(„Warum ich so weise bin", „Warum ich so klug bin" etc.) biographische Infor-
mationen dort ein, wo sie zur Beantwortung dieser Fragen brauchbar erschei-
nen. Die autobiographischen Auskünfte haben, „bruchstückweise" eingepasst,
eine subsidiäre Funktion: Sie dienen der Beglaubigung, der Erhärtung oder der
Illustration, werden aber nicht um ihrer selbst willen berichtet.
Aus diesen autobiographischen Auskünften wäre es für jemanden, der mit
N.s Biographie nicht vertraut ist, kaum möglich, ein zusammenhängendes Bild
seines Lebensverlaufes zu gewinnen. Es scheint so, als verlange EH, dass man,
um die „bruchstückweise" berichteten lebensgeschichtlichen Einzelheiten ein-
ordnen zu können, noch eine — natürlich damals noch gar nicht vorhandene —
N.-Biographie von anderer Hand lese. Die Fragmentarität der autobiographi-
schen Auskünfte zeigt vor allem an, dass es auf die Lebensgeschichte als chro-
nologischem Ablauf gar nicht ankommt, sondern nur auf lebensgeschichtliche
Einzelheiten oder bestimmte Eigentümlichkeiten der Person F. N., wenn diese
die Leistungsfähigkeit von N.s Denken und die Bedeutung seines Umwertungs-
unternehmens herauszuheben helfen. Die Information hat Beglaubigungsfunk-
tion: Ein spezifisches Denken bewährt sich im Leben des Denkenden und die-
ses die decadence-Bedrohung überwindende Leben muss vice versa ein
antidekadentes, damit antichristliches und immoralistisches Denken hervor-
bringen. EH propagiert kein einfaches Kausalverhältnis zwischen Denken und
Leben, etwa dergestalt, dass das Denken einfach das Leben zu gestalten ver-
mag, oder das Leben ein spezifisches Denken notwendig hervorbringen muss;
vielmehr illustriert das Werk auf vielfältige Weise die Wechselbeziehung zwi-
schen Denken und Leben. Lebensgeschichtliches wird in EH mitgeteilt, inso-
fern es zur Genealogie von N.s Denken beiträgt (Stegmaier 2008, 65), aber auch
Denkbewegungen (etwa bei der in EH zentralen Kommentierung der eigenen
Werke in chronologischer Abfolge) werden zur Genealogie von N.s Leben
exemplarisch und partiell herangezogen, namentlich dort, wo die Überwin-
dung der decadence das bestimmende Thema ist.
Schon vor EH kreisten N.s autogenealogische Überlegungen um die Entste-
hungsbedingungen seiner Werke. Charakteristisch hierfür sind die Vorreden,
mit denen N. 1886 und 1887 die Neuausgaben der Geburt der Tragödie, von
Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft ver-
sah. Sie geben eine bestimmte Lesart dieser Schriften vor, nämlich diejenige,
 
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