Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0366
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 343

schriften mit einem derart emphatischen Ich durchweg vermieden (auch bei
den anderen Kapiteln in GD). Es ist klar, dass N. mit dieser Formulierung der
Kapitelüberschriften die Selbstpräsentationsfunktion von EH noch einmal
unterstreicht. Die Frage-Antwort-Form hingegen, die ebenfalls für N.s Kapitel-
überschriften untypisch ist, gibt EH den Anschein eines Katechismus — eine
Form übrigens, die N. auch in AC 2, KSA 6, 170 adaptiert. Wer die Fragen auf
die Antworten weiß, warum das Ich so klug und so weise ist, warum es so
gute Bücher schreibt und warum es ein Schicksal ist, der hat als Leser in sich
die Umwertung, auf die EH vorbereiten will, eigentlich schon vollzogen.
Während es in AC 2 katechismusgerecht kurze und (scheinbar) klare Ant-
worten auf die wesentlichen Fragen gibt, werden in EH die Antworten auf die
in den jeweiligen Titeln implizierten Fragen nicht in dieser Prägnanz gegeben.
Dem Leser fällt vielmehr die Aufgabe zu, aus der Fülle des Gesagten die Ant-
wort selbst herauszufiltern und auf den Begriff zu bringen. Man kann überdies
darüber rätseln, ob es sich hier tatsächlich um echte „Warum"-Fragen, also
um Fragen nach Gründen handelt, die N. als philosophische Fragen, weil der
Wirklichkeit unangemessen, andernorts zurückweist: Gründe sind nie zu
ergründen. Müsste N. also nicht eher fragen, weshalb er so klug oder weise sei,
also nach Ursachen? Jedenfalls enthalten die „Warum"-Kapitel ihren Lesern ein
letztes „Weil", eine definitive Auskunft vor.
EH Warum ich so weise bin spricht über die familiär-physiologischen
Bedingungen der Weisheit, die das Ich sich zuspricht. Wesentlich ist dabei,
dass es die decadence an sich selbst erfahren, aber auch überwunden hat und
im Kern eigentlich stets gesund gewesen sei. Der Gegensatz der von Vater- und
Mutterseite ererbten Anlagen spiegelt sich in diesem Gegensatz von decadence
und Gesundheit; aus dem „Willen zur Gesundheit, zum Leben" (267, 3 f.)
sieht N. seine eigene Philosophie erwachsen. Trotz der Krankheit fühlt das Ich
„Freiheit vom Ressentiment" (272, 2) und meint, „Angreifen gehört zu meinen
Instinkten" (274, 3). Als ein letzter Zug seiner „Natur" wird „eine vollkommen
unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts" (275, 16-19) genannt.
EH Warum ich so klug bin bringt die scheinbaren Alltäglichkeiten von N.s
Existenz — die gebotene Ernährung, den Aufenthaltsort, das Klima und die
Erholungsart — zur Sprache, um zur Klärung der Titelfrage beizutragen. Mit
allen metaphysischen und religiösen Problemen habe er sich hingegen nie
ernsthaft herumschlagen müssen; er habe statt Idealitäten die Realität im Blick
behalten, worin wiederum seine eigentliche Klugheit liege. Die Wendung gegen
den „Idealismus" fällt in diesem Kapitel besonders scharf aus.
EH Warum ich so gute Bücher schreibe lenkt die Aufmerksamkeit von der
Weisheit und Klugkeit des Ichs auf dessen Werke, deren bislang ausgebliebene
Rezeption zu Reflexionen über das Verstanden- und Nichtverstanden-Werden
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften