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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0404
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Stellenkommentar EH weise, KSA 6, S. 270-271 381

KSA 6, 27, 25. Dass das Christentum trotz seiner Vergebungsrhetorik von Vergel-
tungslogik zerfressen sei, ist ein Hauptvorwurf in N.s später Christentumskri-
tik, vgl. z. B. AC 40, KSA 6, 214, 4-7. Von dieser Vergeltungslogik frei ist nur der
„Typus des Erlösers" in AC 29-31. Das Ich in EH nimmt dieselbe Unfähigkeit zu
vergelten nun für sich selbst in Anspruch. Es reklamiert und parodiert gleicher-
maßen messianische Attribute.
271, 20 f. Auch scheint es mir, dass das gröbste Wort, der gröbste Brief noch
gutartiger, noch honnetter sind als Schweigen.] Solche Briefe hat N. durchaus
geschrieben — vgl. z. B. an Theodor Fritsch, 29. 03. 1887, KSB 8, Nr. 823, S. 51 —,
und zwar mit deutlich erhöhter Frequenz in den letzten Monaten seines
bewussten Lebens, als er die Briefform zur finalen Frontenklärung nutzte, vgl.
z. B. an Malwida von Meysenbug, 20. 10. 1888, KSB 8, Nr. 1135, S. 457-459, an
Elisabeth Förster, Mitte November 1888, KSB 8, Nr. 1145, S. 473 f., an Ernst Wil-
helm Fritzsch, 18. 11. 1888, KSB 8, Nr. 1147, S. 477.
271, 22 f. Höflichkeit des Herzens] Vgl. NK KSA 6, 244, 23.
271, 25 Alle Schweiger sind dyspeptisch.] Der Umkehrschluss gilt offensichtlich
nicht, denn auch „ein Mann der starken Worte und Attitüde", Thomas Carlyle,
treibt womöglich nichts anderes um als die „heroisch-moralische Interpreta-
tion dyspeptischer Zustände" (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 12, KSA 6,
119, 11-13). Vgl. NK 302, 32.
271, 25-28 Man sieht, ich möchte die Grobheit nicht unterschätzt wissen, sie ist
bei weitem die humanste Form des Widerspruchs und, inmitten der modernen
Verzärtelung, eine unsrer ersten Tugenden.] Was wiederum den Stil von N.s
Spätwerk, insbesondere von AC, zu erklären hilft, nämlich als angemessenes
Mittel, eine angeblich effeminierte Zivilisation wachzurütteln.
271, 28-32 Wenn man reich genug dazu ist, ist es selbst ein Glück, Unrecht zu
haben. Ein Gott, der auf die Erde käme, dürfte gar nichts Andres thun als
Unrecht, — nicht die Strafe, sondern die Schuld auf sich zu nehmen wäre erst
göttlich.] Damit opponiert N. gegen die seit Sokrates in der philosophischen
Tradition vorherrschende Meinung, dass Unrechttun schlimmer sei als
Unrechtleiden (Platon: Gorgias 473a). Der Tugendhafte, der das Gute tut, ist
nach Platons Sokrates glücklich, der Unrecht tuende Böse hingegen unglück-
lich (ebd., 507a-c). N. bricht mit diesem abendländischen Philosophie-Konsens
und schlägt sich auf die Seite des Kallikles, der im Gorgias bekanntlich für das
rücksichtslose Recht des Stärkeren plädiert und für die unbeschränkte Lustver-
wirklichung des sich durchsetzenden, amoralischen ,Übeltäters' plädiert. Der
Schlussausblick auf einen unrechttuenden Gott lässt sich sowohl auf den im-
moralistischen Dionysos in N.s Verständnis (vgl. schon die Darstellung des
 
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