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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0487
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464 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

1888, KSA 13, 19[1]4, 540, 21-541, 2 aus: „Ich gestatte mir noch eine Erheite-
rung. Ich erzä(hle,) was ein kleines Buch mir erzählt hat, als es von seiner
ersten Reise nach Deutschland zu mir zurückkam. Dasselbe heißt: Jenseits
von Gut und Böse, — es war unter uns gesagt, das Vorspiel zu eben dem
Werke, das man hier in den Händen hat. Das kleine Buch sagte zu mir: ,ich
weiß ganz gut, was mein Fehler ist, ich bin zu neu, zu reich, zu leidenschaft-
lich, — ich störe die Nachtruhe. Es giebt Worte in mir, die einem Gott noch
das Herz zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von Erfahrungen, die man nur
6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht. — Grund genug, daß
die Deutschen mich verstanden...' Aber, antwortete ich, mein armes Buch,
wie konntest du auch deine Perlen — vor die Deutschen werfen? Es war eine
Dummheit!" (Vgl. dazu auch die von Förster-N. 1904, 475 mitgeteilte, ähnliche
Notiz N.s zu Za, die freilich sonst nicht zu belegen und möglicherweise eine
Bearbeitung Förster-N.s ist.) Das Motiv der durch N.s Werke gestörten Nacht-
ruhe ist schon älter. So berichtete ein nur fragmentarisch überlieferter Brief an
die Mutter vom 19. 09. 1886, KSB 7, Nr. 750, S. 249 f., Z. 8-11: „Man erzählte mir
von einem jungen Mathematiker in Pontresina, der vor Aufregung und Entzü-
cken über mein letztes Buch ganz die Nachtruhe verloren habe" (in den Erläu-
terungen KGB III 7/2, S. 245 ist die Identität dieses Mathematikers nicht ermit-
telt; es könnte sich um den allerdings damals noch sehr jungen N.-
Enthusiasten und Mathematiker Felix Hausdorff gehandelt haben, vgl. Haus-
dorff 2004, 6, Fn. 15).
302, 26-30 Es giebt durchaus keine stolzere und zugleich raffinirtere Art von
Büchern: — sie erreichen hier und da das Höchste, was auf Erden erreicht wer-
den kann, den Cynismus; man muss sie sich ebenso mit den zartesten Fingern
wie mit den tapfersten Fäusten erobern.] „Cynismus" bezeichnet im Sprachge-
brauch des späten 19. Jahrhunderts einerseits die sokratische Schule der Kyni-
ker, die die völlige Bedürfnislosigkeit ebenso wie „hündische" Schamlosigkeit
als philosophische Haltung kultivierten (der Name leitet sich wohl von grie-
chisch kvwv, Hund ab), andererseits aber allgemein Gemeinheit, Unflätigkeit,
Bosheit. Schon beim frühen N. ist „Cynismus" häufig mit „Ironie" und „Spott"
assoziiert; in AC 34, KSA 6, 206, 29 f. stellt die Wendung „welthistorischer
Cynismus" die Steigerung und Überbietung der andernorts auftauchenden
„welthistorische[n] Ironie" dar (EH WA 4, KSA 6, 363, 33); EH WA 4, KSA 6,
363, 12-15 beklagt Cynismus schlicht als Bosheit und Unrecht. In JGB 26, KSA 5,
44, 21-32 wird vom „Philosophen" gesagt, er begegne, wenn er Glück habe,
„eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe, — ich meine soge-
nannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die ,Regel'
an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und
Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor Zeugen reden zu müs-
 
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