Stellenkommentar EH Bücher, KSA 6, S. 303-304 467
lichkeit u. Feminismus', so darf man in dem letzten Worte wohl einen
Druckfehler statt Femininismus annehmen, obgleich auch dies Fremdwort
wohl nur eine von Brandes gewagte Neubildung wäre, und zwar eine sehr
überflüssige, da wir in gutem, allgemein verständlichen Deutsch sagen kön-
nen: ,Abscheu vor weichlichem und weiblichem Wesen'" (Sanders 1891,
451). Gemeint ist Brandes' berühmter Aufsatz Aristokratischer Radicalismus.
Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche (1890); Brandes scheint wirklich
„Feminismus" statt „Femininismus" gemeint zu haben, jedenfalls steht es so
noch in späteren Fassungen des Aufsatzes: „Es fand sich ursprünglich viel
Weibliches, viel Passives in seiner [sc. N.s] Natur. Er lebte auch lange nur von
Frauen umgeben. Die militärische Schule und die Theilnahme am Krieg haben
ihn wahrscheinlich in sich selbst etwas Hartes und Männliches entdecken las-
sen, und ihm einen weitgehenden Abscheu vor Weichlichkeit und Feminismus
beigebracht." (Brandes 1895, 164; zur Vorgeschichte dieses Aufsatzes vgl. Bran-
des' Korrespondenz mit dem Rundschau-Herausgeber Julius Rodenberg bei
Bohnen 1980, 68-70.) Der Ausdruck „Feminismus" hat also offensichtlich
inspiriert von N. seinen Weg in die deutsche Sprache gefunden, auch wenn N.
selbst die Vokabel „Femininismus" bevorzugte.
303, 25-28 Wenn ich mir das Bild eines vollkommnen Lesers ausdenke, so wird
immer ein Unthier von Muth und Neugierde daraus, ausserdem noch etwas Bieg-
sames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und Entdecker.] Dieses
Ideal-Leser-Profil erinnert an AC Vorwort, KSA 6, 167, wo die Konvention zwi-
schen Leser und Autor verletzt wird, wonach der Autor dem Leser seine Schrift
empfehlen, ja andienen soll. Vielmehr ist es beim späten N. der Autor, der
Forderungen an den Leser stellt und damit jeden, der die hohe Messlatte nicht
erreicht, als möglichen Opponenten des in einer N.-Schrift Gesagten von vorn-
herein mundtot macht. Stellen wie 303, 25-28 sind auch deswegen bemerkens-
wert, weil sie das eigentliche Versprechen der Kapitelüberschrift, nämlich mit-
zuteilen, warum das Ich so gute Bücher schreibt, völlig konterkarieren: Eine
Antwort auf diese Warum-Frage wird verweigert unter Hinweis darauf, dass
dem faktischen Leser der vom sprechenden Ich produzierten Werke die Qualifi-
kationen fehlen, die ihn erst zum „vollkommnen Leser" machen würden.
Gleichzeitig findet eine Angleichung von Autor-Ich und „vollkommenem Leser"
statt, die sich beide durch dieselben Eigenschaften intellektueller Abenteuer-
lust, Entdeckerfreude und Mut auszeichnen — explizit beide ein „Unthier" sind
(303, 26 u. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 302, 11). Konse-
quent ist dann, dass sich das Ich als bisher einziger ernsthafter Leser der eige-
nen Schriften präsentiert.
303, 31-304, 3 Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je / sich mit
listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, — / euch, den Räthsel-Trunke-
lichkeit u. Feminismus', so darf man in dem letzten Worte wohl einen
Druckfehler statt Femininismus annehmen, obgleich auch dies Fremdwort
wohl nur eine von Brandes gewagte Neubildung wäre, und zwar eine sehr
überflüssige, da wir in gutem, allgemein verständlichen Deutsch sagen kön-
nen: ,Abscheu vor weichlichem und weiblichem Wesen'" (Sanders 1891,
451). Gemeint ist Brandes' berühmter Aufsatz Aristokratischer Radicalismus.
Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche (1890); Brandes scheint wirklich
„Feminismus" statt „Femininismus" gemeint zu haben, jedenfalls steht es so
noch in späteren Fassungen des Aufsatzes: „Es fand sich ursprünglich viel
Weibliches, viel Passives in seiner [sc. N.s] Natur. Er lebte auch lange nur von
Frauen umgeben. Die militärische Schule und die Theilnahme am Krieg haben
ihn wahrscheinlich in sich selbst etwas Hartes und Männliches entdecken las-
sen, und ihm einen weitgehenden Abscheu vor Weichlichkeit und Feminismus
beigebracht." (Brandes 1895, 164; zur Vorgeschichte dieses Aufsatzes vgl. Bran-
des' Korrespondenz mit dem Rundschau-Herausgeber Julius Rodenberg bei
Bohnen 1980, 68-70.) Der Ausdruck „Feminismus" hat also offensichtlich
inspiriert von N. seinen Weg in die deutsche Sprache gefunden, auch wenn N.
selbst die Vokabel „Femininismus" bevorzugte.
303, 25-28 Wenn ich mir das Bild eines vollkommnen Lesers ausdenke, so wird
immer ein Unthier von Muth und Neugierde daraus, ausserdem noch etwas Bieg-
sames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und Entdecker.] Dieses
Ideal-Leser-Profil erinnert an AC Vorwort, KSA 6, 167, wo die Konvention zwi-
schen Leser und Autor verletzt wird, wonach der Autor dem Leser seine Schrift
empfehlen, ja andienen soll. Vielmehr ist es beim späten N. der Autor, der
Forderungen an den Leser stellt und damit jeden, der die hohe Messlatte nicht
erreicht, als möglichen Opponenten des in einer N.-Schrift Gesagten von vorn-
herein mundtot macht. Stellen wie 303, 25-28 sind auch deswegen bemerkens-
wert, weil sie das eigentliche Versprechen der Kapitelüberschrift, nämlich mit-
zuteilen, warum das Ich so gute Bücher schreibt, völlig konterkarieren: Eine
Antwort auf diese Warum-Frage wird verweigert unter Hinweis darauf, dass
dem faktischen Leser der vom sprechenden Ich produzierten Werke die Qualifi-
kationen fehlen, die ihn erst zum „vollkommnen Leser" machen würden.
Gleichzeitig findet eine Angleichung von Autor-Ich und „vollkommenem Leser"
statt, die sich beide durch dieselben Eigenschaften intellektueller Abenteuer-
lust, Entdeckerfreude und Mut auszeichnen — explizit beide ein „Unthier" sind
(303, 26 u. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, 302, 11). Konse-
quent ist dann, dass sich das Ich als bisher einziger ernsthafter Leser der eige-
nen Schriften präsentiert.
303, 31-304, 3 Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je / sich mit
listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, — / euch, den Räthsel-Trunke-