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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0496
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Stellenkommentar EH Bücher, KSA 6, S. 305 473

diesem Betracht ebenso honnette als strenge Gesinnung keinen Zweifel lasse,
will ich noch einen Satz aus meinem Moral-Codex gegen das Laster mittheilen:
mit dem Wort Laster bekämpfe ich jede Art Widernatur oder wenn man schöne
Worte liebt, Idealismus. Der Satz heisst: „die Predigt der Keuschheit ist eine
öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen
Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff „unrein" ist das Verbre-
chen selbst am Leben, — ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des
Lebens." —] Im Druckmanuskript lautete diese Passage ursprünglich: „Man
gestatte mir die Vermuthung, daß ich die Weiblein kenne: das ist dionysische
Mitgift. Aber das Urtheil über das ,Ewig-Weibliche' ist der Maaßstab, das Senk-
blei geradezu, für die Tiefe eines Psychologen. Ich finde, um hierüber ,objektiv'
zu urtheilen, sogar das Urtheil Nietzsche's über das Weib tiefer, radicaler,
unbetheiligter, als sonst ein Psychologen-Urtheil, — er hat zum Beispiel
das Wort gewagt: ,das Weib hat unter seiner Eitelkeit als Person immer noch
seine Verachtung für das Weib überhaupt'. Unangenehm vielleicht: aber das
Unangenehme ist ja das sigillum veri... Man muß hier nicht aus dem Winkel
urtheilen, wie die Herren Pariser, die das Weib als Krankheit, das heißt
ihren Zufall von Paris und neunzehntem Jahrhundert, zur Lösung vom Problem
,Weib' überhaupt benützen, — man muß ein Wenig Geschichte des Weibes
kennen. Daß z. B. an sich schon das Weib das ,schwächere' Geschlecht sein
sollte, ist historisch ebensowenig als ethnologisch aufrecht zu erhalten: fast
überall finden sich — oder fanden sich — Culturformen, wo die Herrschaft
beim Weib ist. Es ist ein Ereigniß, es ist, wenn man will, eine Art Entschei-
dung, im Schicksal der Menschheit, daß das Weib endgültig unterlag, — daß
alle Instinkte der Unterliegenden obenauf in ihm kamen und den Typus Weib
schufen... Zweifeln wir nämlich nicht daran, daß erst seitdem das Weib
etwas Bezauberndes, Interessantes, Vielfaches, Listiges ist, — ein Filigran von
unausrechenbarer Psychologie: es hat damit aufgehört langweilig zu
sein... Die Macht ist langweilig — man sehe sich doch das ,Reich' an!... Wäre
es überhaupt auf Erden auszuhalten, wenn nicht das Weib ein Genie der Unter-
haltung und der Anmuth, wenn es nicht Weib geworden wäre? — Aber dazu
muß man schwach sein,... auch ein Genie der Bosheit!... ein Wenig Mänade
selbst!... Unterschätzen wir nämlich die Bosheit nicht, meine Herrn Philoso-
phen: — es ist mein erster Einwand gegen den christlichen Himmel, daß die
Engel darin nicht boshaft sind..." (KSA 14, 485 f.).
Die endgültige Fassung dieses Passus ist eindimensionaler, indem sie
einen starken Akzent auf die Kritik an der zeitgenössischen Frauen-Emanzipa-
tionsbewegung legt und dieses Emanzipationsbestreben als eine Form der
decadence interpretiert. Damit erzeugt N. zugleich die Suggestion, die her-
kömmlichen Geschlechterrollen seien quasi naturgemäß richtig verteilt, auch
 
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