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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0533
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510 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

derschriften, er schrieb ab, er corrigirte auch, — er war der eigentliche Schrift-
steller, während ich bloß der Autor war. Als das Buch endlich fertig mir aus
der Druckerei zu Händen kam — zur größten Verwunderung eines Schwerkran-
ken! — sandte ich, unter Anderem, zwei Exemplare nach Bayreuth. Durch ein
Wunder von Sinn im Zufall kam gleichzeitig bei mir ein schönes Exemplar des
Parsifal-Textes an, mit Wagner's Widmung an mich ,seinem theuren Freunde
Friedrich Nietzsche Richard Wagner, Kirchenrath.' — Diese Kreuzung der zwei
Bücher — mir war's, als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte: klang es nicht,
als ob sich Degen kreuzten?... Jedenfalls empfanden wir es Beide so: denn
wir schwiegen Beide... Seitdem gab es weder eine unmittelbare, noch
eine briefliche Beziehung mehr zwischen Wagner und mir. — Ich denke heute
mit tiefer Dankbarkeit an diesen Bruch mit Wagner. Er vollzog sich, ohne daß
irgend ein verletzendes Wort gesprochen, irgend eine Aufwallung niedrigerer
Affekte mitgespielt hätte — wie eine Necessität, streng, düster, tief: ein Ausei-
nandergehn zweier Schiffe, die sich begegnen, die sich eine kleine Zeit mißver-
stehen und lieben konnten, — bis ihre Aufgabe sie nach entgegengesetzten
Meeren auseinandertrieb. Denn Wagner ist mein Gegensatz. — Und wie ath-
mete ich jetzt auf: wie groß war mein Glück! Alles, was mit der dritten
Unzeitgemäßen versprochen war, mit diesem ,Buch für freie Geister' wird es
bereits erfüllt. Eine Höhe ist hier erreicht, wo wirklich eine Luft der Freiheit
weht: eine Luft leicht, bewegt, mild — und so rein! so rein! Wie alle Dinge
nun im Lichte liegen! — Man denkt mit Erbarmen an die Luft da unten, an
die Malaria-Luft des ,Ideals'... Von jetzt ab wehrte ich mich nicht mehr mit
Gründen gegen die Lug- und Trugwelt des Jenseits', der ,Moral' ,Erlösung', der
,Wahrheit' ,Entselbstung': ein Instinkt der Reinlichkeit, ein Hautgefühl genügte
bereits, — ich wusch mir die Hände nach jeder Berührung mit dem Christen-
thum. — Giebt es eine stärkere Formel gegen allen ,Idealismus' als den Satz,
in dem die Quintessenz des ganzen Buchs zur Maxime formulirt ist: Über-
zeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als
Lügen?... Krieg gegen die Überzeugungen!... Kennt man meine Definition der
Überzeugung, des Glaubens? Eine Instinkt gewordene Unwahrhaf-
tigkeit... Philosophie, wie ich sie seitdem verstanden und gelebt habe, ist
das freiwillige Aufsuchen aller fremden und fragwürdigen Seiten des Daseins,
Alles dessen, was bisher durch die Moralin [sic] in den Bann gethan, durch
die Idealisten als unter sich abgelehnt wurde. Aus der langen Erfahrung,
welche mir eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursa-
chen, aus denen ,idealisirt' und ,moralisirt' wurde, sehr anders ansehn als
Moralisten und Idealisten erwünscht sein kann es erwünscht sein mag — die
verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen
Namen kam für mich ans Licht. ,Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit
 
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