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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0572
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Stellenkommentar EH Zarathustra, KSA 6, S. 337 549

chen — heisst es daselbst — wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft,
wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer
neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren,
als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen
Umfang der bisherigen Werthe und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten die-
ses idealischen „Mittelmeers" umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern der
eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals
zu Muthe ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber,
einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Göttlich-Abseitigen alten
Stils: der hat dazu zu allererst Eins nöthig, die grosse Gesundheit — eine
solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und
erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss... Und
nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals,
muthiger vielleicht als klug ist und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden
gekommen, aber, wie gesagt, gesünder als man es uns erlauben möchte, gefähr-
lich gesund, immer wieder gesund, — will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn
dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand
abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine
Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Gött-
lichem, dass unsre Neugierde sowohl als unser Besitzdurst äusser sich gerathen
sind — ach, dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind!... Wie könn-
ten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Wis-
sen und Gewissen, noch am gegenwärtigen Menschen genügen lassen?
Schlimm genug, aber es ist unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und
Hoffnungen nun mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste zusehn und vielleicht
nicht einmal mehr zusehn... Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches,
versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möch-
ten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal
eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und
Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess;
für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits
so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blind-
heit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-
übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, welches oft genug unmensch-
lich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen
Erdenernst, neben alle bisherige Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick,
Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt — und
mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentli-
che Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der
Zeiger rückt, die Tragödie beginnt..."] Es handelt sich um FW 382, KSA 3,
 
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