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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0579
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556 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

„erste moderne Mensch auf dem Throne" (Burckhardt 1869b, 3) bezeichnet,
war N. als ein unorthodoxer Herrscher bekannt, dessen ungewöhnlicher Wis-
sensdrang ihn zu einem der Wegbereiter der Neuzeit gemacht zu haben schien
(zu N.s einschlägigen Lektüren vgl. NK KSA 6, 250, 8-11). Im Anklang an die
Worte Burckhardts nannte N. ihn den „ersten Europäer nach meinem
Geschmack" (JGB 200, KSA 5, 121, 14; zu N.s Sicht auf Friedrich II. vgl. z. B.
Mende 1997, 29-37) — allerdings war das Urteil Burckhardts keineswegs lobend
gemeint, stand dieser doch Friedrichs rücksichtsloser Installation eines zentra-
lisierten Staatsapparats auf Sizilien ablehnend gegenüber. Nach heute vorherr-
schender Ansicht war der mittelalterliche Kaiser entgegen N.s Stilisierung wohl
doch kein „Atheist und Kirchenfeind comme il faut"; dieses Bild verdankt sich
wesentlich der päpstlichen Antipropaganda des 13. Jahrhunderts, deren affir-
mative Adaptionen in der neuzeitlichen Geschichtsschreibung N. sehr zupass
kamen.
340, 30-32 Zuletzt gab ich mich mit der piazza Barberini zufrieden, nachdem
mich meine Mühe um eine anti-christliche Gegend müde gemacht hatte.]
N.s Darstellung entspricht nicht der chronologischen Abfolge seiner Aufent-
halte: Er wohnte zuerst an der Piazza Barberini in Rom (vgl. NK 340, 19-24);
gegen Ende seines dortigen Aufenthaltes suchte er in Süditalien einige Tage
nach einem klimatisch geeigneten Aufenthaltsort für den Sommer (vgl. NK 340,
24-29). Das Klima, und nicht etwa die Tatsache, dass er in Süditalien keine
„anti-christliche Gegend" aufzufinden vermochte, war der Grund für
seine Weiterreise nach Norden.
340, 32-341, 3 Ich fürchte, ich habe einmal, um schlechten Gerüchen möglichst
aus dem Wege zu gehn, im palazzo del Quirinale selbst nachgefragt, ob man
nicht ein stilles Zimmer für einen Philosophen habe.] Der Quirinalspalast wurde
1871 zum Sitz des italienischen Königs, nachdem Rom im selben Jahr zur
Hauptstadt des Königreichs Italien erklärt worden war. Damit hielt die weltli-
che Macht Einzug in ein Gebäude, das in den vorhergegangenen Jahrhunderten
als päpstliche Sommerresidenz und als vatikanisches Verwaltungsgebäude
gedient hatte. Für N.s Bitte um ein Zimmer in der königlichen Residenz gibt es
keinen Beleg. Jedoch kommt er in seinem auf den 31. 12. 1888 datierten Zettel
an Köselitz auf die Idee zurück, dort Wohnung zu nehmen, wo die Könige
residieren: „Meine Adresse weiß ich nicht mehr: nehmen wir an, daß sie
zunächst der palazzo del Quirinale sein dürfte." (KSB 8, Nr. 1228, S. 567, Z. lOf.)
341, 3-9 Auf einer loggia hoch über der genannten piazza, von der aus man
Rom übersieht und tief unten die fontana rauschen hört, wurde jenes einsamste
Lied gedichtet, das je gedichtet worden ist, das Nachtlied; um diese Zeit
gieng immer eine Melodie von unsäglicher Schwermuth um mich herum, deren
 
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