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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0617
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594 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

lich vollzogen, aber aus der Idee der „germanischen Freiheit" mussten keines-
wegs demokratische oder auch nur republikanische Folgerungen gezogen wer-
den. Der von N. in EH WA 2, KSA 6, 359, 3 gleich bemühte Heinrich von
Treitschke gab bereits vor der Reichsgründung in seinen Historischen und Poli-
tischen Aufsätzen kund: „Wir Germanen pochen zu trotzig auf das unendliche
Recht der Person, als daß wir die Freiheit finden könnten in dem allgemeinen
Stimmrechte" (Treitschke 1865b, 616). Egalitär sollte die ,germanische' Frei-
heitsrhetorik also nicht verstanden werden. Vielmehr habe, so erfährt man aus
Treitschkes Deutscher Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (vgl. NK 358, 33-
359, 3) „der viel mißbrauchte Ausdruck ,deutsche Freiheit' in Friedrichs [sc.
Friedrichs II. von Preußen] Munde einen neuen, edleren Sinn" gewonnen: „er
bedeutet die Aufrichtung einer großen deutschen Macht, die das Vaterland im
Osten und im Westen mit starker Hand vertheidigt, aber nach ihrem eigenen
Willen" (Treitschke 1879a, 1, 52).
Was das deutsche Verhältnis zur Aufklärung angeht, so tauchte der Vor-
wurf der Seichtheit, Frivolität und Gottlosigkeit namentlich gegen deren fran-
zösische Vertreter in der nationalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
nicht selten auf; dagegen hielt man die Ethik Immanuel Kants mit ihrem Kate-
gorischen Imperativ für die Vollendung, ja die einzig angemessene Form auf-
klärerischen Denkens — ein Vorurteil, das bekanntlich bis heute nachwirkt. Im
ersten Band seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (vgl. NK
358, 33-359, 3) löste Treitschke Kants Ethik von ihren gesamteuropäischen phi-
losophischen Voraussetzungen ab: „Und ganz und gar von preußischem /79/
Geiste erfüllt war jene neue reifere Form des deutschen Protestantismus, wel-
che endlich aus den Gedankenkämpfen der gährenden Zeit siegreich hervor-
ging und ein Gemeingut des norddeutschen Volkes wurde: die Ethik Kants.
Der kategorische Imperativ konnte nur auf diesem Boden der evangelischen
Freiheit und der entsagenden pflichtgetreuen Arbeit erdacht werden."
(Treitschke 1879a, 1, 78 f.) N. hielt Kants Ethik gleichfalls für theologisch
imprägniert, kehrte aber die Bewertungsvorzeichen um und unterwarf sie in
AC 11, KSA 6, 177 f. einer beißenden Kritik.
358, 33-359, 3 Es giebt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es giebt,
fürchte ich, selbst eine antisemitische, — es giebt eine Hof-Geschichtsschreibung
und Herr von Treitschke schämt sich nicht...] Die Polemik gegen Heinrich von
Treitschke kehrt in EH WA 3, KSA 6, 361, 33 f. wieder. Der ursprünglich liberale
Historiker Treitschke, der ein Studienfreund Franz Overbecks war, entwickelte
sich — auch als langjähriger Schriftleiter der Preussischen Jahrbücher — immer
mehr zum Hauptrepräsentanten einer nationalen und konservativen
Geschichtsschreibung, die sich loyal zu Bismarck und seiner Reichsidee ver-
hielt. In seinem Hauptwerk Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert
 
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