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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0655
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632 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

und was ihm nur zeitlich zur Freude gereicht.'" (Schopenhauer 1873-1874,
3, 720 nach Carove 1832, 270) Schopenhauer konnte dieser Entselbstungsidee,
die an die Willensverneinung erinnert, einiges abgewinnen; hier wiederum
hätte N. einen markanten Beleg für das von ihm kritisierte Fortwirken der
christlichen Moral über die Erledigung des christlichen Glaubens hinaus
gehabt. Auch wenn das Christentum als Lehre schon abgetan sein sollte, ist
die christliche Moral seiner Ansicht nach weiterhin gültig und verderblich.
Zum „Willen zum Ende" siehe NK KSA 6, 12, 3.
372, 34-373, 1 parasitische Art Mensch, die des Priesters] Vgl. NK 313, 21 f.
und NK KSA 6, 195, 20 f.
373, 3-7 Und in der That, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der
Menschheit, Theologen insgesammt, waren insgesammt auch decadents: daher
die Umwerthung aller Werthe ins Lebensfeindliche, daher die Moral...]
„Umwerthung aller Werthe" ist also nicht notwendig eine positiv besetzte For-
mel zur Charakterisierung dessen, was N. selber als philosophischer Gesetzge-
ber ins Werk setzen will, sondern gleichfalls anwendbar für das, was sich die
decadents und Priester haben zuschulden kommen lassen, nämlich eine
Umkehrung der ursprünglichen, vorgeblich natürlichen Werteordnung, die
eine weltbejahende gewesen sein soll. N.s Umwertung ist also eine Antwort
auf eine strukturell gleiche — ebenfalls durch heilig gesprochene Bücher ver-
mittelte — Umwertungsbewegung, die sich nach AC in Juden- und Christentum
vollzogen habe.
373, 7-10 Definition der Moral: Moral — die Idiosynkrasie von decadents,
mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen — und mit Erfolg. Ich lege
Werth auf diese Definition.] In der zeitgenössischen Diskussion bedeutete
Idiosynkrasie „eigentümliche Abneinung" oder „eigentümliches Verhalten"
(vgl. NK KSA 6, 74, 3). Wenn Moral genetisch auf Idiosynkrasie zurückgeführt
wird — und zwar auf die „Idiosynkrasie von decadents" — soll dem Anspruch
von Moral auf Allgemeingültigkeit der Boden entzogen werden: Moral ist in
N.s „Definition" nichts Universelles, sondern etwas höchst Partikulares, dem
zerstörerische Interessen innewohnen. Moral sei gegen das Leben selbst gerich-
tet, indem sie sich mit dem Anspruch auf Lebensleitung allen, auch nicht deka-
denten Menschen aufdrängen will. Die in 373, 7-10 gegebene Definition passt
freilich nur auf eine spezifische Moral, eben die christliche. Offenbar werden
hier andere Wertungsweisen und Wertorientierungen — etwa diejenige, die N.
als Lebenbejahender propagiert — nicht als „Moral" qualifiziert. Auch der Titel
von GM geht von diesem engen Begriffsradius von Moral aus: In dem Werk
wird die Entstehung und Durchsetzung einer spezifischen, tendenziell lebens-
 
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