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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0669
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646 Dionysos-Dithyramben

Zeitalter: „Das Pindarische Zeitalter" (KGW II 2, 142). Zwar sind von
Pindars Chorlyrik zur Hauptsache nur die Gesänge für die Sieger bei den Spie-
len in Olympia und an anderen Stätten überliefert, während von seinen
ursprünglich zahlreichen Dionysos-Dithyramben nur wenig, darunter immer-
hin zwei größere Fragmente erhalten blieben. Dennoch bestimmte Pindars Stil
die dithyrambische Dichtung der Neuzeit. Maßgeblich dafür war allerdings
nicht Pindar selbst, sondern eine Horaz-Ode, in deren Mittelpunkt Pindar steht
(Carmina IV, 2). Sie bildete den Subtext schon für Klopstock, Herder und für
den jungen Goethe in Wandrers Sturmlied. Den Lobpreis Pindars als eines uner-
reichbar großartigen, naturhaften Dichters verband Horaz in seiner Ode mit
der Hervorhebung seiner Dithyramben als genialer, ja elementarer Dichtung.
Aus Horaz' Ode leitete man die Vorstellung ab, Pindar habe in genialischer
Manier alle metrischen Gesetze durchbrochen — eine zu N.s Zeit schon über-
holte Vorstellung, nachdem August Boeckh Pindars komplizierte Metrik er-
forscht hatte. Klopstock, der junge Goethe und Hölderlin aber sahen sich durch
Horaz' Pindar-Ode zur Schaffung großer, emphatisch-feierlicher Ge-
dichte in freien Rhythmen legitimiert. Klopstock griff in der Odenfolge Auf
meine Freunde (1747) direkt auf die Ode des Horaz zurück. Auch die Erfindung
neuer Worte, die Horaz an Pindar rühmt, ließ Pindar den Dichtern der Genie-
zeit im Lichte des Originalen und Genialen erscheinen. Vor allem Klopstock
legte es systematisch auf die Bildung neuer Worte an und Goethes Sturm- und
Drang-Hymnen sind voll davon, wobei er die schon in der Poetile des Aristoteles
speziell für den Dithyrambos als charakteristisch bezeichnete Bildung von
neuen Komposita als sprachschöpferische Möglichkeit kultivierte. „Von den
Nomina sind die doppelten am meisten dem Dithyrambos angemessen" (Aris-
toteles: Poetile 1459a 8 f.). Auch diese Eigenart des Dithyrambos adaptiert N. in
seinen Dionysos-Dithyramben immer wieder, so etwa in der Klage der Ariadne,
wenn er von „Herzens-Kohlenbecken", von „Götter-Blitz-Augen", vom „Henker-
Gott" und von der „Herzensflamme" spricht.
Besonders noch musste es ihn beeindrucken, dass der junge Goethe in der
am meisten dithyrambischen seiner Genie-Hymnen, in dem von N. in einer
Nachlassaufzeichnung aus der Zeit der Tragödienschrift identifikatorisch zitier-
ten Gedicht Wandrers Sturmlied (NL 1871, KSA 7, 13[1], 371), den Anruf des
„Genius" am Ende in eine Beschwörung Pindars mit deutlichen Anklängen an
Horaz' Pindar-Ode einmünden ließ. Allerdings blendete der junge N. mit seiner
Genie-Aspiration aus, dass nicht nur Horaz den gewaltigen Höhenflug Pindars
als unerreichbar und für jeden Nachahmer als einen verhängnisvollen Ikarus-
flug darstellte, sondern dass auch Goethe in seiner Horaznachfolge das — am
Anfang des Sturmlieds mit den Anrufungen des „Genius" noch enthusiastisch
beschworene — Genie am Ende scheitern lässt. Später, in seinen Dionysos-
 
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