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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0695
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672 Dionysos-Dithyramben

Mann spielt in seinem Roman Doktor Faustus an zentraler Stelle, wo die nach
N. modellierte Hauptfigur Adrian Leverkühn von einem verhängnisvollen Bor-
dell-Abenteuer erzählt, zweimal auf N.s „Töchter der Wüste" an (in Kapitel XVII
nennt Leverkühn die Bordell-Damen „Töchter der Wüste" und „Wüstentöch-
ter").
Im Zarathustra allerdings steht die „Wollust" in dem weiteren Horizont
von N.s Wendung gegen die „Leibverächter" und noch grundsätzlicher gegen
die christliche Verneinung des ,Diesseits'. Im Kapitel Von den drei Bösen fragt
Zarathustra: „welches sind in der Welt die drei bestverfluchten Dinge?", und er
antwortet: „Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht: diese Drei wurden
bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet, —
diese Drei will ich menschlich gut abwägen" (KSA 4, 236, 17-23). Kurz darauf
folgt eine ausführliche ,Abwägung', zuerst durch eine in sechs Kurzabschnitte
aufgeteilte Erörterung, wie „Wollust" sowohl im positiven wie im negativen
Sinne zu bewerten sei. Voransteht die positive Wertung: „Wollust: allen buss-
hemdigen Leib-Verächtern ihr Stachel und Pfahl, und als ,Welt' verflucht bei
allen Hinterweltlern: denn sie höhnt und narrt alle Wirr- und Irr-Lehrer"
(KSA 4, 237, 4-6). Und weiter: „Wollust: für die freien Herzen unschuldig und
frei, das Garten-Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das
Jetzt" (237, 10-12). Abschließend heißt es: „Wollust: — doch ich will Zäune um
meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: dass mir nicht in
meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen! — " (237, 21-23) Vgl. aber
auch EH Warum ich so klug bin 6: „Die Welt ist arm für den, der niemals krank
genug für diese ,Wollust der Hölle' gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast gebo-
ten, hier eine Mystiker-Formel anzuwenden" (KSA 6, 290, 7-10).
Die Assoziation von Wollust, Tod und Wüste ist übrigens im christlichen
Motivkontext weit verbreitet, vielleicht am deutlichsten artikuliert in Bernhard
von Clairvaux' Homilia In illud Matthaei, cap. XIII, V. 45: „O solitudo beata! o
ereme mors vitiorum, vita virtutum!" (Bernardus Claraevallensis: Opera
Omnia = Patrologiae latinae cursus completus, ed. Jacques Paul Migne, Bd. 184,
Paris 1862, Sp. 1132D-1133A. „0 selige Einsamkeit, o Wüste, du Tod der Laster,
du Leben der Tugenden!") Bei N. ist das christlich-asketische Junktim von
Wüste und Tugend durch dasjenige von Wüste und Wollust ersetzt. In beiden
Fällen aber bleibt der Tod herrschend.

Letzter Wille.
Dieser ganz vom Gedanken an das Sterben beherrschte, aber auch von dem
seit Zarathustra signifikanten Willenskult bestimmte Dithyrambus, dessen
 
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